Teju Coles lyrischer Fotografieband: Flüchtige Wunder
Zwischen Traum und Wirklichkeit: In „Blind Spot“ kombiniert der New Yorker Literaturstar Teju Cole seine Fotografien mit poetischen Texten.
Als der nach seinem Roman „Open City“ hoch geschätzte Autor Teju Cole 2011 einen Essayband vorbereitete, dessen letzter Aufsatz den Titel „Blind Spot“ trug, erlebte er eine Heimsuchung, die weit über den jedem Gesunden eigenen und mühelos kompensierten „blinden Fleck“ hinausging: Eines Morgens war sein linkes Auge erblindet.
Dieser Schock wirkte tief. Auch nachdem der Retina-Riss gelasert und die Welt wieder sichtbar geworden war, blieb ihm die visuelle Wahrnehmung eine kostbare Gabe. Erst wenige Jahre zuvor hatte er zu fotografieren begonnen, nun konzentrierte er sich darauf. Vermehrt nahm er Einladungen zu Lesungen und Vorträgen an, nicht nur seiner literarische Arbeit wegen, sondern um die Erfahrung fremder Städte und Landschaften mit der Kamera zu vertiefen.
Was machen Wörter mit Bildern?
Inzwischen hat der in Nigeria aufgewachsene Amerikaner mehr als 40 Länder besucht, „Blinder Fleck“ zeigt Aufnahmen aus 25. Er besitzt neun Kameras, die beste ist „die, die ich gerade dabei habe“. Immer noch fotografiert er gerne analog, aus den 10 000 Negativen seines Archivs wählte er 150 aus und kombinierte die Abzüge (alle farbig, in unterschiedlichen Formaten) mit Texten. Sein Ziel war weder ein „Best of“ noch „Die spektakulärsten Ansichten der Erde“ – im Gegenteil.
Was er erreichen möchte, bezeichnet er als „Poesie“, die die Überschreitung von Genregrenzen voraussetzt, in diesem Fall: die Interaktion von Bild und Wort. Foto rechtsseitig, Text links in zarten Lettern, so dass er nur als gelesener wirkt, nicht als Schriftblock. Die für beide Seiten geltende Überschrift nennt den Ort. Ein schlichtes Konzept, wie es scheint, aber keineswegs ist. Was machen Wörter mit Bildern und umgekehrt? Was entsteht?
Ein bei Regenwetter aufgenommenes Foto zeigt eine niedrige Backsteinmauer, geschützt von einer durchsichtigen Plastikplane, in der sich ein kurzer Riss aufgetan hat, als lächle ein Mund. Drei streng parallele, zu Streifen ausgezogene Flächen (Boden, Mauer, Hintergrund) werden von schrägen Folienfalten überspielt, in deren Mitte der Mund lockt. Die aparte Wiedergabe eines alltäglichen Eindrucks, technisch perfekt – aber darüber hinaus?
Ein Prozess gegenseitiger semantischer Aufladung
Der Titel lautet: Wannsee. Dort lebte Cole ein paar Monate als Gast des Literarischen Colloquiums. Der Text spricht nicht weiter von diesem Aufenthalt, sondern von Caravaggio, insbesondere von dem in Sanssouci hängenden Gemälde „Jesus und der ungläubige Thomas“. Wer es kennt, legt es im Geiste über Coles Foto, und schon erinnert der schmale Riss nicht mehr an einen Mund, sondern an die Wunde, die der Speer auf der Brust des Auferstandenen hinterlassen hat. Der zweifelnde Jünger legt den Finger hinein und beugt sich vor, um nicht nur zu tasten, sondern zu sehen.
Die allegorische Maschinerie, die der Text in Gang setzt, bedeutet uns, dass es auch auf dem Bild um Sehen und Erkennen geht und um die Hindernisse, die es begleiten (die durchsichtige Folie, die undurchsichtige Mauer). Die Mauer könnte überall gebaut worden sein, aber der Ortsname Wannsee (und der Subtext Berlin) lösen spezielle Assoziationen aus. Während der Lektüre verwandelt sich das Bild, obwohl von seinem Gegenstand kaum die Rede ist. Unruhig wandert das Auge des Betrachters vom Text zum Bild und zurück, ein Prozess gegenseitiger semantischer Aufladung, den Cole immer neu zu stimulieren versucht.
Cole will eine innere Kohärenz entfalten
Gefragt, nach welchen Kriterien er die Fotos ausgewählt habe, antwortet er: „If they build up“. Gleiches gilt für die Wörter. Eine innere Kohärenz soll sich angesichts der einzelnen Doppelseite wie der gesamten Reihenfolge im Buch entfalten, ein Durchgang durch einen Raum, in dem sich Themen und Motive entwickeln und in vielen Variationen verknüpfen: Doppelung und Spiegelung, Bilder und Abbilder, vergangene und gegenwärtige Leiden, Verlassenheit, Wunden, Erinnerung, Traum.
Der Raum ist dicht gefüllt, dennoch offen, so wie die Bilder vor allem vermitteln, wie sehr sie Ausschnitte sind aus einem viel weiter gespannten Gesichtsfeld. Entscheidend ist der Rand als Grenze, die Disparates in überraschende Zusammenhänge presst. Wir sehen ein Kreuzfahrtschiff auf dem Meer, aber es handelt sich um Werbung auf einem nur teilweise erkennbaren Bus, die Überschrift lautet „Nürnberg“: Sehen, Lesen und Erinnern öffnen sich in alle Richtungen. Der Text zitiert Dürer, der über das Entschwinden von Traumbildern klagt, aber Cole spricht auch von „flüchtigen Wundern in hybrider Gestalt“, und das trifft auf das Foto selbst zu, die makellose Fixierung eines Rätsels.
Erwartungen werden unterlaufen
Still sind diese Bilder, reglos, in sich versunken, ohne abzuweisen, die meisten menschenleer wie unter einem Bann. Für Bewegung sorgen die von Uda Strätling vorzüglich übersetzten Texte, indem sie hartnäckig unsere Erwartungen unterlaufen und eher lyrisch organisiert sind. Das deutsche Wort Wanderlust existiert auch im Englischen, es wird hier zitiert und charakterisiert das Fortschreiten ohne Eile, ein beinahe statisches Nacheinander auf der Suche nach Schönheit, die auf Konstruktion und Gleichgewicht beruht.
Das Gesehene entstammt dem Alltag, zeigt ihn anders als gewohnt, während die Texte die Bilder durch Verweise auf Historie, Literatur oder Erlebnisse unterfüttern. Oft liefern sie die schwarzen Fakten, auf denen eine scheinbare Idylle beruht (das Schweizer Bauernhaus und die Geschichte der „Verdingkinder“), sie zeigen Analogien, benennen Unrecht. Das Wort „Wunde“ wird zum Code der Erkenntnis.
Cole bezieht sich auf John Berger
Was der Betrachter aber vor allem erfährt, ist: dass über ein Bild anders als deskriptiv oder interpretierend gesprochen werden kann. Fotograf und Autor sind frei, der rare Fall ihrer Identität erhöht die Schwierigkeit, einander nicht auf den Leim zu gehen. Jedes Bild muss sich die Frage gefallen lassen: Was verschweigst du? Und jeder Text muss der Forderung genügen, Zusammenhänge aufzuschließen oder einen inspirierenden Rahmen zu bieten.
Der erste, der sich diese Art Freiheit im Umgang mit Bildern nahm, war der 2017 gestorbene John Berger, der in den siebziger Jahren das Schreiben über Malerei revolutionierte. Er brach die Beschränkungen der wissenschaftlichen Analyse auf, indem er die Rezeption von Kunst zurückband an existentielle Erfahrungen und die sozialen Bedingungen des Malenden wie des Gemalten. Wörter und Bilder hatten einander plötzlich etwas zu sagen, waren sich auf kreative Weise zugetan. Caravaggio wurde von Berger gerühmt, sein Leben als beispielhaftes erzählt, während er noch in den Nebenkabinetten der Museen hing. Berger integrierte eigene Zeichnungen und Gedichte in seine Prosa, lebte lange zurückgezogen im Savoyer Bergland und beeinflusste Künstler aus vielen Kulturen.
Ein halbes Jahrhundert trennt die Freunde John (1926) und Teju (1975). Das Buch des Jüngeren demonstriert, wie sich die Zeiten verändert haben, wieviel komplexer und komplizierter das Produzieren und Rezipieren von Bildern heute ist und wie es dennoch gelingen kann, sich dem Mainstream wirkungsvoll zu widersetzen. „Blinder Fleck“ ist John gewidmet, vielleicht konnte er das Manuskript der Originalfassung noch lesen. Das Eigene in diesem so anders beschaffenen wie wunderbar verwandten Spiegel fortgeschrieben zu sehen, muss ihn glücklich gemacht haben.
Teju Cole: Blinder Fleck. Mit einem Vorwort von Siri Hustvedt. Aus dem Englischen von Uda Strätling. Hanser Berlin 2018. 352 Seiten, 38 €.
Gisela Trahms
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