Filmisches Meisterwerk aus Russland: "Leviathan": Das Ungeheuer der Macht
Viel Ehr, viel Feind: Mit "Leviathan", seiner im Westen gerühmten finsteren Russland-Allegorie, hat sich Filmregisseur Andrej Swjaginzew bei Putins Getreuen viel Ärger eingehandelt. Das Meisterwerk reüssiert aber sogar im heimischen Kino.
Im Alten Testament schildert Gott dem unerschütterlich gläubigen Hiob das Meeresungeheuer Leviathan in einer über viele Verse sich erstreckenden Suada. Er rühmt den festen Panzer des Riesentiers, seine Zähne – „wie Reihen von Schilden“, den Rachen, aus dem „Funken herausschießen“, und sogar „sein Niesen lässt Licht aufleuchten“. Ein furchterregendes Monster. „Siehe“, sagt Gott über sein Lieblingsspielzeug, „jede Hoffnung wird an ihm zuschanden; schon wenn einer ihn sieht, stürzt er zu Boden.“
Irgendwo zwischen den Ur-Sauriern und der neunköpfigen Hydra nistet dieses mythische Schreckenswesen in der menschlichen Fantasie; dem Automechaniker Kolja (Alexej Serebrjakow) aber, dem in maßloses Leid getriebenen Helden von Andrej Swjaginzews „Leviathan“, erscheint es in vielfacher menschlicher Gestalt. Sein feistester Kopf gehört dem Bürgermeister Wadim (Roman Madjanow), der – mit Putin-Konterfei im holzgetäfelten Amtszimmer – über seiner winzigen Fischfabrik-Gemeinde jenseits des Polarkreises thront wie ein Mafiaboss.
Raus aus dem Haus für eine lumpige Entschädigung?
Kolja will er mitsamt dessen junger Frau Lilia (Elena Lyadowa) und dem 15-jährigen Sohn Roma (Sergej Pokhodaew) aus seinem alten Holzhaus vertreiben, um auf dem Wassergrundstück ein „Kommunikationszentrum“ in „public private partnership“ zu errichten oder vielleicht sich selbst eines nicht allzu fernen Tages eine feine Residenz. Das Enteignungsverfahren läuft in der dritten Instanz, eine lumpige Entschädigung steht an, Koljas Widerstandskraft ist nahezu aufgerieben.
Welche Gesichter sich der menschliche Leviathan hier sonst überstülpen kann, zeigt sich, als Koljas Ex-Armeekumpel, der Moskauer Anwalt Dmitri (Wladimir Wdowitschenko), den Bürgermeister mit dem Hinweis auf dessen korrupte Vergangenheit zur Zahlung einer weitaus höheren Entschädigungssumme drängt. Wadim ruft sofort den örtlichen Polizeichef, die Staatsanwältin sowie die Richterin zum Appell, um Dmitris Hintergrund zu recherchieren – und im Übrigen verfügt er jederzeit über eine einsatzbereite Schlägertruppe. Andererseits: Ist nicht sogar Dmitri ein Teil jenes Leviathan, weil er sich vor dem Bürgermeister mit dem Rückhalt von Mächtigeren brüstet – und nicht das pure Recht verficht?
Russland: eine todkranke Gesellschaft
Eine todkranke Gesellschaft porträtiert der mit „Die Rückkehr“, „Verbannung“ und „Elena“ zum bedeutendsten Regisseur Russlands aufgestiegene Swjaginzev – und sein neben der Bibel zweiter Titel-Verweis ist vor allem sarkastisch zu verstehen. Der britische Staatstheoretiker Thomas Hobbes hatte Mitte des 17. Jahrhunderts in seinem Hauptwerk „Leviathan“ den Staat mit dem biblischen Monster gleichgesetzt. Seine These: Um sich nicht in einem rechtlosen Raum bloß gegenseitig totzuschlagen, verabreden die Menschen die Unterwerfung unter eine einschüchternde, aber wenigstens Frieden – und Sicherheit – bringende Autorität. Dass die Freiheit dabei verloren geht, ist das geringere Übel.
Für Kolja taugt leider weder die Staatsphilosophie Hobbes’ noch die Bibel. Mit seinem Haus verliert er seine Sicherheit und bald auch, als Folge tragischer Ereignisse und lügnerischer juristischer Konstruktionen, auf Jahre seine Freiheit. Zudem darf er – zwar durchaus so gepeinigt wie Hiob, den Gott zunächst furchtbar prüft – nicht auf Gottes späte, überreiche Entschädigung hoffen. Schließlich ist auch die orthodoxe Kirche aufs Innigste mit dem weltlichen Leviathan-Konstrukt verwoben. Bürgermeister Wadim, ein Zyniker und Choleriker, der seine Widersacher stets duzt und beschimpft, spendet eifrig für die Kirche und bekommt dafür vom Priester freie Hand für seine finsteren Taten. Gottes Segen? So korrupt wie alles andere. Und was zu Beginn des Films aussieht wie ein Paradies am Ende der Welt, mit majestätischen Bergen, weiten Fjorden und einsam erhabenen Landschaften, ist die Hölle.
Fast wie ein Wunder mutet es da heute an, dass Swjaginzews Film vom Kulturministerium gefördert und letztes Jahr von Russland sogar ins Oscar-Rennen geschickt wurde (den Oscar hat „Leviathan“ dann knapp verfehlt, aber den Golden Globe als bester Auslandsfilm gewonnen). Auch positiv: Der Film läuft zwar, einem neuen Gesetz entsprechend, um Schimpfwörter zensiert, sonst aber unbeanstandet seit Anfang Februar im russischen Kino, laut Verleih mit bislang knapp 350 000 Zuschauern (zu denen einige Millionen hinzugezählt werden dürften, die den bereits Anfang Januar geleakten Film im Internet sahen).
Andrej Swjaginzew wird deutlicher
Andererseits ist es ein Symptom für das rapide sich wandelnde politische Klima in Russland, dass der entfesselte staatliche Leviathan, der seinen Bürgern Freiheit und auch Sicherheit immer mehr entzieht, sich nun gegen den Regisseur selbst zu richten beginnt. Kulturminister Wladimir Medinski, dessen Haus den Film zu einem Drittel finanzierte, hält Swjaginzew inzwischen vor, er sonne sich im internationalen Ruhm, um „Russland öffentlich ins Gesicht zu spucken“. Die Bürgermeisterin des Drehorts Teriberka an der Barentssee – so kolportiert es Wladimir Kaminer in „epd film“ – will ihrerseits dem Regisseur „gerne eine runterhauen“, weil er die Bewohner in ein schlechtes Licht rücke. Was schrill zu der dpa-Information passt, nach einer Sondervorführung des Films hätten die Dörfler gemeint, tatsächlich sei ihr Leben „noch viel schlimmer“.
Swjaginzew selbst, der sich anfangs deutungshalber noch auf die „universelle Parabel“ zurückgezogen hatte, wird derweil auch deutlicher. Nicht nur, dass seine ursprünglich amerikanische Inspiration für den Film – ein Schweißer aus Colorado hatte 2004 mit einem Bulldozer das örtliche Rathaus beschädigt und sich dann getötet – durch eine aktuellere Variante ergänzt wird: In Kirovsk, wie Teriberka auf der Halbinsel Kola gelegen, erschoss ein Geschäftmann 2009 den Bürgermeister aus Protest gegen lokal erhobene Steuern und nahm sich das Leben. Jüngst angesprochen vom „Spiegel“ auf das Risiko, dass sein nächster Film vom russischen Kulturministerium womöglich nicht mehr finanziert werde, diagnostizierte Swjaginzew kühl, damit verwandle es sich in ein „Propagandaministerium“. Und: „Dann würden wir direkt in die Sowjetzeit zurückkehren.“
Auch diese Kontroversen machen „Leviathan“ zu einem extrem wichtigen Film für all jene, die das so rasend schnell davondriftende europäische Nachbarland Russland begreifen wollen. Darüber hinaus ist er ein überzeitliches Meisterwerk – episch, erschütternd, extrem realistisch und poetisch zugleich, manchmal schrillkomisch, oft still. Putin mag eines Tages verschwinden; Kolja bleibt.
In Berlin im Cinema Paris, FaF, fsk und Kant (alle OmU)
Jan Schulz-Ojala