Kultur: Die Liebe ist ein hartes Brot
Mit Andrej Swjaginzews preisgekröntem Debüt-Film „Rückkehr“ meldet sich das russische Kino zurück auf der internationalen Szene
Man glaubt es kaum: Dieser Film, ein souveränes, reifes Werk, ist ein Debüt. Das Kino-Debüt eines 40-jährigen Regisseurs, der bisher da und dort als Schauspieler arbeitete und nun alle erworbene Kraft auf einen eigenen Film wirft: Andrej Swjaginzew. Die erste Arbeit auch von Michail Kritschman, der die Kamera mit imponierender Intelligenz, Agilität und Raffinesse führt. Das erste Drehbuch, ebenso ökonomisch wie wirkungsvoll, von Wladimir Moisejenko und Alexander Nowototzki. Die erste subtile minimalistische Filmmusik von Andrej Dergatschew. Und der erste nachhaltige Kino-Auftritt von Konstantin Lawronjenko, der den Vater spielt, eine Figur, der jegliche Wärme vor lauter Lebenshärtung verloren gegangen scheint. Und, schon weniger verwunderlich, die Premiere zweier Halbwüchsiger: Wladimir Garin, geboren 1987, und, zwei Jahre jünger, Iwan Dobronrawow. Sie spielen in diesem Film die Söhne. Und was für unvergessliche Söhne.
So viele russische Namen: Ihr Klang ist uns fremd geworden im Weltkino der letzten Jahre. Umso lieber nun wollen wir uns wieder an ihn gewöhnen. Denn „Die Rückkehr“, 2003 mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnet, markiert hoffentlich auch die Rückkehr des großen russischen Autorenkinos. Plötzlich ist da nach Jahren, in denen die meisten Osteuropäer schlechte Genre-Kopien amerikanischer B-Pictures produzierten, wieder Hoffnung. Sie wird auch genährt etwa durch Boris Chlebnikows „Koktebel“ oder „Der Spaziergang“ von Alexej Utschitjel, die auf internationale Festivals drängen und dort überzeugen durch Stilsicherheit und thematische Kraft. Und endlich bekommen solche Filme, ein Zeitalter nach Tarkowski, auch wieder eine Chance im Kino.
„Die Rückkehr“ erzählt eine Parabel auf Macht und Rebellion und verzweifelte Sehnsucht nach Liebe, die man so ähnlich vielleicht auch in Kanada, Brasilien oder Neuseeland erzählen könnte. Aber eben: nur so ähnlich. Es braucht den Osten und den Norden für diese Geschichte, es braucht die Küste nahe Finnland und den gewaltigen Ladoga-See, wo Swjaginzew gedreht hat, es braucht die Melancholie, die Wortkargheit und die Weite. Und wohl auch eine Vergangenheit aus Bitterkeit, Unterdrückung und Gewalt: Nur so vielleicht ist das kalte Feuer dieses Films zu verstehen. Er mündet in eine Katastrophe, so wie das ganze Land in eine Katastrophe gemündet ist. Und nimmt gerade daraus einen neuen Anfang.
Andrej und Iwan, die Brüder, wachsen in der Provinz auf, in der Obhut der Mutter (Natalia Vdovina). Eines Tages ist plötzlich der Vater im Haus, der vor zwölf Jahren verschwunden war: Die Jungen kennen ihn nur von einem einzigen alten Foto. Euer Vater ist Pilot, hatte die Mutter immer gesagt, um die Fantasien der Söhne freundlich zu stimmen. Doch nun sitzt da, fast stumm, ein grobschlächtiger Riese am Tisch, und herrscht, vom ersten Augenblick an. Und mit diesem Mann sollen die Jungen am nächsten Morgen aufbrechen für zwei Tage, in Papas Auto, zum Angeln? Ja, mit Papa, wir haben richtig gehört. Die Söhne sollen brav „Papa“ sagen nach diesen zwölf Jahren, am besten immer: „Ja, Papa“. Nicht nur dabei versteht dieser finstere Papa keinen Spaß.
Dass dann aus den zwei Tagen eine Woche wird: ein Abenteuer der sehr besonderen Art. Eine Tour als Tortur. Denn der mit seinem alten Kombi dahergefahrene Vater stellt Regeln auf und verletzt sie gleich wieder, fordert Gehorsam und entzieht Vertrauen, wirft den widersetzlichen Iwan aus dem Auto und holt ihn nach Stunden im Regen wieder ab, droht, lässt ab, belohnt nicht, straft und straft und straft. Nur so, in der Anwendung purer Willkür, scheint für ihn das zu funktionieren, was er für Erziehung hält. Dieser Mann ist kein Pilot, wispern die Jungen nachts im Zelt. Ein Gefangener eher, ausgebrochen irgendwo, ein Verbrecher. Ein Gesetzloser, der Gesetze aufstellt. Ein Teufel, der Gott spielen will.
„Die Rückkehr“ , immer spannend, beunruhigend und bewegend zugleich, ist ein Roadmovie von der Siedlung in die Kleinstadt, an ein Seeufer bis hin auf eine unbewohnte Insel. Und ein enges psychologisches Kammerspiel, eines unter freiem Himmel. Kein Messer im Wasser, aber eines im Sand. Andrej, der den jüngeren Bruder Iwan gern kurz den „Kurzen“ nennt, macht sich unter dem Übervater schnell klein. In Iwan aber wächst der Hass. Faszinierend, wie genau der Film die sich langsam verschiebenden Kräfteverhältnisse zwischen den Brüdern, aber auch zwischen dem Vater und seinen Söhnen beobachtet. Ja, dieser Vater kommt zu spät für die Liebe. Dieser Herrscher kommt zu spät für mögliche Untertanen. Freiheit ist nicht revidierbar. Das Rad der Rumpffamiliengeschichte: Niemand dreht es zurück, am allerwenigsten düstere Rückkehrer aus heiterem Himmel. Abwesenheit zählt, jeden Tag, bis zur Nullsumme für immer.
Andrej Swjaginzew weigert sich in Interviews, seine Parabel zu deuten. Also schlägt die Stunde der Interpreten. Manche sehen in diesem Regisseur einen religiösen Mystiker und späten Wiedergänger Tarkowskis. Lesen das von Sonntag bis Sonnabend fatal voranschreitende Geschehen als umgekehrte Schöpfungsgeschichte. Verweisen auf Schlüsselszenen, in denen der Vater dem todesschlafenden Christus ähnelt, gerade so wie Andrea Mantegna ihn malte. Andere lesen die Familien-, die Generationenkriegsgeschichte politisch: als schizophren nachgetragene Sehnsucht eines Volks nach dem gestürzten Zaren oder auch Zentralkomitee-Vorsitzenden; nur sollte der die „Rückkehr“ an seinen Platz dann doch besser nicht wagen. Man kann die religiös-politischen Spuren auch zusammenführen: Also wäre Gott der letzte Diktator – und unsere einzige Freiheit als winzige Erdenmenschen eine ohne Transzendenz.
Oder ist „Die Rückkehr“, die nahe liegenden Deutungen beiseite gelassen, eine Parabel auf die grässliche Einsamkeit jedes Menschen vor seinem tiefsten, unerfüllbaren Wunsch nach Liebe? Alles möglich, solange dieser merkwürdige Debütant namens Swjaginzew schweigt. Auch das souverän und reif: dass er schweigt.
In Berlin ab Donnerstag in den Kinos Broadway, Filmkunst 66, FT Friedrichshain, International und Yorck; untertitelte Originalfassung im Babylon Kreuzberg
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