Berliner Mauer komplett fotografiert: Das Ornament der Teilung
„Die Inventarisierung der Macht“: Eine Ausstellung im Haus am Kleistpark und ein Bildband zeigen erstmals vollständig die komplette Berliner Mauer.
Jetzt ist sie nur noch Linie, Strich, abstraktes Steinband. Und wer nicht gerade an den Betonresten der East Side Gallery entlangspaziert, tastet den Verlauf der Steine im Asphalt nur selten mit Blicken ab. Das Stadtbild hat die Berliner Mauer geschluckt. Erstaunlich genug, wo sie doch einst ein auf 160 Kilometern sichtbares Dokument der verbrecherischen deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts war. Eine „typografische Machtdemonstration“, wie der Fotograf Arwed Messmer das DDR-Bauwerk nennt.
Auch in den Jahren 1965 und 1966 war sie so absurd wie abstrakt anzusehen. Eben nicht als durchgehend betoniertes oder gemauertes, von einem exakt durchgeplanten Todesstreifen und penibel angeordneten Wachtürmen flankiertes Gebilde, sondern auch als Blockade aus Zementplatten, als spilleriger Stacheldraht- oder schiefer Bretterzaun. Umstellt von klobigen, klapprigen Hochsitzen und einem wüsten Sammelsurium von Unterständen, Sandwällen oder Verhauen. Eine Architektur, die beides ist: grässliche Wunde und schlechter Witz.
160 Kilometer - das Panorama zeigt die vollständige Mauer
Auf den von Arwed Messmer rekonstruierten Panoramen ist erstmals vollständig die komplette Mauer zu sehen, sowohl innerstädtisch als auch an den Stadträndern entlanglaufend. „Die Inventarisierung der Macht. Die Berliner Mauer aus anderer Sicht“ heißen die Ausstellung im Haus am Kleistpark und das aus zwei umfänglichen Bänden bestehende Fotobuch.
Die aus den Dienstprotokollen von Grenzsoldaten destillierten Texte hat Annett Gröschner eingerichtet. Sie treten mit den meist menschenleeren Panoramen in eine eigenartige Zwiesprache. Die Sätze reichen von Beschimpfungen, die aus West-Berlin herüberschallen, wie „Ein Betrunkener brüllt: Ihr Luders!“ bis zu Kollegenbewertungen wie „Im Grenzdienst war er ängstlich“, Szenen und Situationen also, die sich hüben wie drüben tagtäglich abspielten.
Schau und Buch sind der Abschluss eines gemeinsamen Langzeitprojekts, das 1995 mit einem Zufallsfund begann. Da entdeckten Gröschner und Messmer, die seit 1992 gemeinsam künstlerisch mit historischem Material arbeiten, im Militärischen Zwischenarchiv in Potsdam einen unscheinbaren Pappkarton. Darin befanden sich Kleinbildnegative – das erste Konvolut bislang unveröffentlichter Maueraufnahmen unbekannter Fotografen. Nach einer ersten, kleineren Schau und einem ersten Bildband vor fünf Jahren und einem letzten Fund 2012 hat sich für beide nach zehn Jahren sowohl der geografische Mauerring geschlossen als auch seine künstlerische Durchdringung vollendet.
Immer noch frappiert, wie unwirtlich auch West-Berlin in den Sechzigern aussah. Neu ist das geradezu grafische Nichts, das sich an den Stadträndern als Zaun in die Landschaft fräst. Im ersten Ausstellungsraum liegen sechs großformatige Schau-Bücher auf einem Tisch und laden unter dem warmen Schein von Narva-Lampen zum Durchblättern der Mauerkilometer ein. Sie komplett aufzuhängen war wegen der Länge von 160 Kilometern schlicht nicht möglich und ist auch nicht nötig: der Sog des repetitiven Moments funktioniert auch so. Stattdessen spielen Messmer und Gröschner zusätzlich mit weiteren, dicht an dicht gehängten Motiven – den Porträts von Grenzsoldaten, deren Augen ein heller Balken verdeckt, einer Serie von Grenztürmen und einer irritierenden Galerie von Wachhund-Namensschildern. „Es brauchte jede Mengen Menschen, Tiere und Material, um diese Sperre zu bilden“, sagt Annett Gröschner.
Messmer und Gröschner inszenieren die Mauer mit größter Nüchternheit
Die Mauer, wie Gröschner und Messmer sie inszenieren, hat nichts mit den historisch-ideologischen Darstellungen in damaliger Politikerreden, dem Betroffenheitsgestus heutiger Mauerfalljubiläen und schon gar nichts mit Gedenkstättendidaktik zu tun. Den beiden ist an einer trockenen Darstellung gelegen. „Die Empörungsgeste fehlt, allein das Material erzählt.“
Diese Nüchternheit zitiert und kommentiert die Originalbilder, die reine Gebrauchsfotografie waren – „eine lapidare Zustandsdokumentation oder besser noch: eine Bestandsaufnahme aus Bauherrensicht“, wie Arwed Messmer es nennt. Laienfotografen seien dafür eingesetzt worden, vermutet er. Auch hier ist die ikonografische Perfektion der Mauer trügerisch. Selbst wenn sich die aus dem Fotomaterial der sechziger Jahre gefertigten Panoramen heute kühl betrachten lassen, ein Ornament gewordener Schrecken brennt sich Kilometer um Kilometer in den Kopf.
Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6-7, bis 21.8., Di-So 11-18 Uhr. Der Bildband ist bei Hatje Cantz erschienen und kostet 98 €.
Gunda Bartels