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Ai Weiwei, 57, in seinem Atelier am Pfefferberg, ein Backsteinbau mit Kellergewölben in der ehemaligen Brauerei.
© Kai-Uwe Heinrich

Ai Weiwei im Tagesspiegel-Interview: "Das Netz ist meine Nation"

Ein Gespräch mit Ai Weiwei, Chinas berühmtestem Gegenwartskünstler und Regimekritiker: Kann China sich ändern? Bleibt Europa human? Warum taugen die Schulen in China nichts? Und wie es jetzt hier in Berlin?

Ai Weiweis Atelier im Pfefferberg liegt gleich neben dem von Olafur Eliasson. Ein schwarzes Tor, dann geht es zwei Treppen hinab in den Keller der ehemaligen Brauerei. Backsteinwände, hohe, angenehm kühle Gewölbe, ein großer Fensterbogen ist im Erdgeschoss herausgebrochen. So fällt Licht in die Kunstkatakombe, in der die unzähligen Schemel von Ais Installation 2014 für den Lichthof des Gropius-Baus gestapelt sind und auf ihren nächsten Auftritt warten. Der Künstler und Regimekritiker sitzt beim Gespräch entspannt am Holztisch. Am Mittwoch kam er von München nach Berlin, mit seinem sechsjährigen Sohn Ai Lao und seiner Lebensgefährtin Wang Fen. Der 57-Jährige Ai Weiwei der international bekannteste Gegenwartskünstler seines Landes. Wegen seiner Konzeptkunst und seinen Menschenrechtsaktivitäten war er fortwährend Repressalien ausgesetzt. Im Frühjahr 2011 kam er für 81 Tage in Haft. Die Berliner Universität der Künste bot ihm damals eine Gastprofessur an, noch bevor er unter strengen Auflagen freigelassen wurde. Am 22. Juli 2015 erhielt er seinen Pass zurück und reiste kurz darauf nach Deutschland.

Ai Weiwei, wir sind hier in Ihrem Berliner Atelier am Pfefferberg. Woran werden Sie hier arbeiten?

Mein Plan ist es, keine Pläne zu haben. Ich genieße immer den Augenblick, meine Freude, meine Neugier richtet sich auf das Hier und Jetzt.

Keine konkreten Kunstprojekte für diesen wunderbaren Ort hier?

Zum Glück gehöre ich nicht zu denen, die Kunstprojekte haben. Mein Leben ist Kunst genug, da muss ich mir um andere Projekte keine Gedanken machen (lacht).

Auf Ihrem Fotoblog bei Instagram kann man immer sehen, was Sie gerade machen. Sie sind am Mittwoch in Berlin gelandet, heute, Donnerstagmorgen, gab es noch keine Berlin-Bilder.

Oh, wir hatten Frühstück, Rührei, Käse, Apfelsaft, Honig …

Das letzte Foto aus München zeigt die Allianz-Arena. Waren Sie beim Audi-Cup-Spiel Bayern München gegen AC Mailand?
Es war das erste Live-Fußballspiel meines Lebens. Eher heiter, kein harter Wettkampf. Es hat etwas, mit so vielen Leuten in einem Stadion zu sein. Eine so riesige Menschenmenge an einem Ort, unglaublich. Ich hätte nichts dagegen, auch in Berlin ins Stadion zu gehen. Oder auf ein Rockkonzert, das wäre großartig.

Gibt es in Peking nicht ständig riesige Menschenmassen zu offiziellen Anlässen?
Aber keine freien Versammlungen. Es gibt Rockkonzerte, aber die sind selten und sehr reglementiert. Die Idee, dass Menschen sich aus freien Stücken an einem Ort versammeln, gehört zur modernen Gesellschaft: gemeinsam feiern, Emotionen teilen, ein offener Wettkampf. Für nicht-moderne Gesellschaften stellt das immer gleich eine Gefahr dar.

Nach vier Jahren können Sie wieder reisen. Welche Folgen hatten das Reiseverbot und die Repressalien für Ihre Kunst?
Es ist wohl noch zu früh, das zu sagen. Meine Kunst hängt immer mit ihren Entstehungsbedingungen zusammen, gleichzeitig bin ich eine sture Person. Manches ändert sich bei mir nie, mein Verständnis der Welt, meine Geisteshaltung, meine Werte, meine Überzeugungen, was Menschenrechte und Meinungsfreiheit betrifft. Und ich höre nicht auf, an Verständigung und Kommunikation zu glauben.

Die Situation in China ist sehr widersprüchlich. Sie haben Ihren Pass zurück, das klingt nach Liberalisierung. Gleichzeitig wurden kürzlich über 200 Menschenrechtsanwälte und -aktivisten verhaftet, einige sitzen noch hinter Gittern.
Die Lage ist sehr komplex. Es ist ja nicht so, dass vor vier Jahren erst ich festgenommen wurde und nun werden Anwälte verhaftet. Das geschah schon damals und wird auch wieder passieren. Ich kenne viele, die angeklagt oder festgenommen wurden, aber nie ein Verbrechen begangen haben. Ähnlich wie ich werden etliche auch nie verurteilt. So kann man weiter hoffen, andererseits bleiben sie Verdächtige oder in U-Haft. Es ist eine Taktik, um die Leute einzuschüchtern, um die sogenannte Stabilität aufrecht zu erhalten.

Versucht China, sich mehr wie ein Rechtstaat zu verhalten, mit ordentlichen Gerichtsverfahren?

Auf den ersten Blick ja, aber in Wahrheit kann nicht davon die Rede sein. Nach wie vor herrscht Willkür, man weiß nie, womit man rechnen kann.

Was können wir in Europa tun, um Menschenrechtler in China zu unterstützen?
Europa hat diese Werte immer sehr hoch gehalten. Die Gesellschaft hier basiert auf Humanismus und gegenseitigem Verständnis. Europa sollte diese Tradition bewahren, zumal sie in der globalisierten Welt an Bedeutung gewonnen hat. Europa wird niemals alleine überleben können. Es muss sich mit den Problemen der Globalisierung befassen, sich dabei auf seine Prinzipien besinnen und sie bei jeder Gelegenheit neu verkünden.

Sie meinen die Flüchtlingspolitik?
Ja, zum Beispiel. Der Humanismus ist die Identität der europäischen Zivilisation. Wer seine Identität aufgibt oder sie vernachlässigt, steuert auf eine humanitäre Katastrophe zu. Europa hat solche Katastrophen infolge der Vernachlässigung seiner Tradition ja bereits erlebt.

Bevor wir den Chinesen helfen, sollen wir den Flüchtlingen hier helfen?
Ich will nur sagen, dass die Probleme überall die gleiche Ursache haben: mangelnden Respekt vor den Menschenrechten. Unser Planet kann nur überleben, wenn wir die Notwendigkeit dieses Respekts erkennen.

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass Ihnen der Rückweg nach China offen bleibt?

Wenn China Probleme hat, bin ich Teil des Problems und will es mit lösen. Ich werde nicht die Flucht ergreifen, es sei denn, ich werde dazu gezwungen. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, mich herauszuhalten. Daher rühren ja meine Probleme, weil mir die Menschen in China und mein Land am Herzen liegen. Aufgeben, das wäre zu einfach.

Sie wurden massiv eingeschüchtert: Wie gehen Sie mit der Angst um?

Die Angst ist immer da. Ich glaube allerdings, dass 90 Prozent der Angst von dem Mangel an Kommunikation herrührt, dem Mangel an Wissen, an Vertrauen. Je mehr es davon gibt, desto geringer die Angst. Auch die, die mich unter Druck setzten und mich unter Kontrolle bringen wollten, haben jetzt vielleicht weniger Angst vor mir. Weil sie sehen, dass ich ein offener Mensch bin, der nichts zu verbergen hat, weil sie Bescheid wissen über meine Geisteshaltung, meine Prinzipien. Ebenso verstehe ich die Gegenseite besser, deshalb bin ich etwas weniger ängstlich.

Was verstehen Sie denn jetzt besser?

(lacht) Okay, zwei Dinge. Erstens, dass es immer etwas geben wird, was mir unverständlich bleibt, aber ich bemühe mich. Zweitens habe ich begriffen, dass auch Polizisten und Beamte den Wunsch haben, mich zu verstehen. So gibt es immerhin eine Kommunikationsbasis.

Warum Ai Weiwei seinen Sohn in Berlin zur Schule schickt

Angekommen in Berlin. Ai Weiwei.
Angekommen in Berlin. Ai Weiwei.
©  Kai-Uwe Heinrich

Ihr Vater, ein berühmter Dichter, hat in der Kulturrevolution schrecklich gelitten. Er schwieg danach.
Seine ganze Generation machte verheerende Erfahrungen und konnte sich nicht darüber verständigen. Im Kalten Krieg war das Land wie ein großes Gefängnis, eine versiegelte Welt. Man konnte nur auf den Tod warten. Heute ist das anders, wegen der Globalisierung und des Internet. Es gibt viele Möglichkeiten, sich auszudrücken. So konnte ich zwar lange nicht in China ausstellen, aber in anderen Ländern. Dass ich so fest an die Macht der Verständigung glaube, hat gewiss auch damit zu tun, dass ich einige Jahre in New York gelebt habe, ich spreche Englisch, ich kenne die zeitgenössische Kunst. Und ich liebe das Internet, ich traue ihm viel zu. Das Netz ist meine Nation.

Ihr Sohn geht in Berlin zur Schule. Dem Bildungssystem in China trauen Sie nicht?
Die Fähigkeit, humanitäres Wissen zu vermitteln, ist vollkommen verloren gegangen. Sie sind dort nicht einmal in der Lage, den Informationsfluss für junge Menschen zu strukturieren. Statt sie eigenes Urteilsvermögen zu lehren, findet Gehirnwäsche statt. Man bringt den jungen Leuten nur praktische Fertigkeiten bei. Das chinesische Bildungssystem opfert so viele junge Köpfe, ihre Leidenschaft, ihre Vorstellungskraft, ihren Mut – alles Grundlagen für das menschliche Glück. Wie kann ich ihm da trauen? Es ist ein ebenso schlimmes Desaster wie eine humanitäre Katastrophe, mit Folgen für mehrere Generationen. Ich sehe da schwarz.

Haben die jungen Leute in China wenigstens über das Internet Zugang zu Bildung?
Das Netz ist ein freies Land, großartig, wie Informationen dort permanent korrigiert werden. Viele Schulen aber sind reine Bürokratien, da lernt man nicht den Umgang damit. Und Schule ist unerlässlich. Sie formt den Charakter, sie schickt die Menschen auf den Weg.

Hat sich Ihr Denken verändert, seit Sie Vater sind?
Ja, man schaut weiter voraus, wie beim Schach. Statt die Folgen des nächsten Zugs zu bedenken, muss man die nächsten drei Züge kalkulieren. Ich übe noch, ich schaffe nur zwei.

Bei ihrer ersten offiziell genehmigten Einzelschau in China zeigten Sie unlängst einen zerteilten antiken chinesischen Tempel – an zwei Orten. Wie haben das Publikum und die Medien reagiert?
Das Land muss sich auch auf seine Kultur besinnen, auf seine Geschichte. Aber das fehlt, es gibt keine tiefere Verständigung über Ästhetik, Moral, Philosophie. Einerseits kamen unglaublich viele Menschen in die Ausstellungen, es war ein riesiger Hype. Andererseits war die Reaktion gleich Null, weil es keinerlei Diskussion über die Arbeiten gab, auch nicht in den Zeitungen.

Ihre Ausstellung 2014 im Martin-Gropius-Bau versammelte explizit politische Kunst: Ihre Arrestzelle, Handschellen, Überwachungskameras …

Ich nenne es nicht politische Kunst, sondern persönliche. Die Arbeiten hatten mit mir zu tun, meinem Leben, meinen Gefühlen, meinen Erfahrungen. Es war eine Notwendigkeit. Ich muss die Dinge wiederholen, die mir widerfahren. Es ist, wie wenn der Lehrer in der Schule sagt: Bitte noch mal!

Mitte September eröffnen Sie Ihre bislang größte Ausstellung in London, was werden Sie dort zeigen?

Überwiegend ältere Arbeiten und einige speziell für die Schau entstandene Werke.

Eine Best-of-Show?
Und eine Worst-of-Show. Kommen Sie einfach gucken.

England hatte Ihnen zunächst ein Halbjahres-Visum verweigert, die Innenministerin entschuldigte sich dann. Akzeptiert?

Natürlich, ich akzeptiere jede Kommunikation, bei denen man einander ernst nimmt. Als ich den Ablehnungsbescheid erhielt, war ich schon sehr amüsiert. Da sah ich nach diesem langen dunklen Tunnel endlich Licht, und auf der anderen Seite der Welt knipsen sie es gleich wieder aus. Ich bekomme meinen Pass in China, und England lehnt fast gleichzeitig das Visum ab. Ich wusste, auch in der sogenannten freien Welt kann man Probleme bekommen, aber doch nicht so schnell!

 Sie riefen dann die britische Botschaft an?
Ich sagte dem Botschafter, entweder ihr überlegt euch das noch mal oder ich veröffentliche den Bescheid. Visum-Anträge sind keine Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Für viele Antragsteller verbinden sich große Hoffnungen und Mühen damit. Ich habe das Ablehnungsschreiben dann auf Instagram gepostet, und sofort berichtete alle Welt darüber. Stellen Sie sich vor, es gäbe kein Internet, dann hätte ich kein Visum. Ich verdanke dem Netz so viel.

Was wollen Sie eigentlich als Gastprofessor an der Universität der Künste hier in Berlin lehren? Nächste Woche soll es ein erstes Gespräch geben.
Mal sehen, was sie wollen, im Moment scheinen in Berlin ja alle in Urlaub zu sein. Ich möchte junge Menschen lehren, wie sie das, was ihr persönlicher Ausdruck ist, in etwas verwandeln, wozu sich andere in Beziehung setzen können. Wie macht man das Private publik, so dass eine Diskussion entsteht? Ausdruck und Kommunikation, das möchte ich lehren. An den Kunsthochschulen wird das oft vernachlässigt. Dort geht es zu sehr um Kunst als Produkt und nicht als Teil des Lebens, als Prozess, als kontinuierlichen Kampf.

Die chinesischen Behörden haben Ihnen zugesichert, dass sie Sie wieder ins Land lassen. Wissen Sie, wann Sie zurückreisen?
Vielleicht morgen? Ich bin mit dem Kopf und dem Herzen weiter dort, aber erstmal genieße ich die Tage hier. Ich hatte noch gar keine Zeit, meinen Künstlerfreunden wie Olafur Eliasson Hallo zu sagen. Denn erstmal will ich in Berlin und Deutschland neue Leute kennenlernen. So bin ich nun mal.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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