Ai-Weiwei-Ausstellung in Berlin: Die Kraft der Beweise
„Evidence“: Die große Ausstellung des chinesischen Künstlers und Dissidenten Ai Weiwei im Berliner Martin-Gropius-Bau versammelt zahlreiche Arbeiten, die auf seine Haftzeit 2011 anspielen und seinen Protest gegen Missstände in China unmissverständlich zum Ausdruck bringen.
Hoppla, sitzt da etwa Ai Weiwei auf einem der 6000 Hocker, die zu einer riesigen Fläche eng zusammen geschoben im Lichthof des Martin-Gropius-Bau stehen? Nein, es ist eine Vision. Der chinesische Künstler hat sich bei einer Probeaufstellung der gigantischen Installation in der Fabrikhalle seines Pekinger Atelier mittendrin fotografieren lassen. Die Bilder schieben sich nun übereinander. In Berlin bei der erstmaligen Präsentation seiner neuesten Arbeiten, der Eröffnung seiner bislang größten Ausstellung wird der bekannteste chinesische Künstler und Regimekritiker vermisst – schmerzlicher denn je. In den letzten Wochen haben Kamerateams ihn besucht, Journalisten ihn interviewt, Kunstmagazine hoben ihn auf ihre Titel, die Medien berichteten über den Unbeugsamen, dem die Ausreise verweigert wird. Schon vorab meinte man zu wissen, was er denkt, wie es ihm geht, welche Botschaften seine Werke in die Welt aussenden.
Doch die Kunst ohne ihren Macher – geht das überhaupt? Natürlich, das musste sie immer schon. Nur in Ais Fall spielt die Persönlichkeit, seine politische Mission, eine so große Rolle, dass seine Abwesenheit fast alles andere überlagert. „Er wird kommen, noch im Laufe der Ausstellung“, davon ist Peter Raue, Rechtsanwalt und Mitbegründer der Initiative „Freiheit für Ai Weiwei“ überzeugt. Auch der 56-Jährige selbst gibt sich in seiner zur Eröffnung ausgestrahlten Video-Botschaft zuversichtlich. Die Kuratoren des Martin-Gropius-Baus, die ihm gern seine eigene Ausstellung vorführen möchten, die Universität der Künste, an der er einen Lehrstuhl hat, die Akademie der Künste, deren Mitglied er ist, die Mitarbeiter seines Berliner Ateliers im Pfefferberg, das weiterhin unterhalten wird – alle erwarten ihn. Kulturstaatsministerin Monika Grütters kommt mittags herübergeeilt, um ihre Solidarität zu bekunden.
Allein Ai Weiweis Persönlichkeit erzeugt Emphase - tut es auch das Werk?
Ai Weiweis Persönlichkeit erzeugt eine Emphase, der auch sein Werk standhalten muss. Es besteht die Probe zweifellos, virtuos bespielt der Künstler die 18 Säle des Gropius-Baus, den er nie besucht hat. Die Planung geschah allein auf der Grundlage von Plänen und Fotografien des Museums. Als Architekt besitzt Ai ein Gespür für Räume: Die singuläre Setzung in jedem Saal verschafft den Werken jedenfalls größtmögliche Wirkung.
Staunend steht der Besucher vor einem Haufen Flusskrebse aus Porzellan, die an das Abschiedsfest zum verordneten Abriss seines Ateliers in Shanghai erinnern – und an das chinesische Internet-Wortspiel, ähnelt die Vokabel für Flusskrebse doch der für die staatlich verordnete „Harmonie“, sprich: Zensur. Betroffen betrachtet man die zu gekrümmten Bettgestellen geschmiedeten Armiereisen, die wie Tausende andere dem Erdbeben in der Provinz Sichuan nicht standhielten, im Jahr 2008. Und die in Reih und Glied auf dem Boden platzierten Computer, Diktiergeräte, Notizbücher, die bei Ais Verhaftung 2011 beschlagnahmt wurden. Der Künstler widerspiegelt den Missstand, macht ihn zum Memorial, jedes Ensemble wird zu einem Mahnmal von Donnerhall.
Ai Arbeitens, die sich gern der Überwältigungsstrategie bedienen, erzielen in den historischen Räumen einen kolossalen Effekt. Diesen verstanden vor ihm auch schon Olafur Eliasson und Anish Kapoor zu nutzen, die hier ebenfalls furiose Ausstellungen hinlegten. Mit beiden ist der chinesische Künstlers befreundet, wie sie unterhält er eine Art Factory mit zahlreichen Mitarbeitern für die Ausführung seiner Großwerke. Sie alle müssen Millionenumsätze stemmen, um ihre Unternehmen am Laufen zu halten. Wie die Einnahmen aus seinen Werken aber zu Ai nach China gelangen, darüber wird geschwiegen, um den unter permanenter Beobachtung stehenden Künstler nicht zu gefährden. Und noch eine Parallele ist zu beobachten: Auch bei Ai schiebt sich zunehmend die Kühle der Mittel, das Nüchterne des konzeptuellen Ansatzes in den Vordergrund. Aura ist selten zu spüren.
Waren es bei der Documenta 12 in Kassel noch die historischen Holztüren, die er in der Karlsaue zu einem Denkmal der durch den Bauboom zerstörten alten Häuser türmte, so arrangiert er sie nun in Marmor. Das Authentische ist nicht von ungefähr einer eisigen Glätte gewichen: Sie wird gezielt eingesetzt. Der Marmor stammt aus dem gleichen Steinbruch, der auch schon für den Kaiserpalast und für Maos Grabmal den Baustoff lieferte. Man muss all das wissen, um Ais Anspielungen auf das Banausentum der Regierenden zu verstehen, auf die Zerstörung kultureller Zeugnisse, den Verlust individueller Lebensformen. Auch die Armada der zurückgelassenen Schemel von Wanderarbeitern im Lichthof erinnert daran.
Das Treuebündnis zwischen den Deutschen und Ai Weiwei ist eher diffus
Ai setzt sein Material plakativ ein: die Handschellen aus Jade, in denen er während seiner Haftzeit zum Verhör gebracht wurde, die Kleiderbügel aus Bergkristall, auf denen er in der Zelle seine selbstgewaschene Kleidung zum Trocknen aufhängen durfte, die Fensterkurbel aus Glas, die Taxifahrer während eines Kongresses abschrauben mussten, um das Hinauswerfen von Flugblättern zu verhindern.
In seinem Werk überkreuzt sich Minimal-Kunst mit Marcel Duchamps Idee des Ready-mades. Beide Strömungen lernte Ai Weiwei während seines Aufenthalts in den USA von 1981 bis 1993 kennen (seine Fotos aus der Zeit zeigte der Gropius-Bau 2011). Im Verbund mit seiner dezidierten Regimekritik ergibt sich daraus ein völlig neuer künstlerischer Ausdruck. Die global verständliche Sprache macht ihn für die chinesische Obrigkeit gefährlich – und attraktiv für das Ausland.
Zweifellos ist Ai Weiwei international ein Superstar, aktuell bietet seine Berliner Galerie Neugerriemschneider auf der Messe in São Paulo Werke des Künstlers an, die sich südamerikanische Sammler bereits reservieren ließen. Aber seine größte Unterstützergemeinde hat er in Deutschland. Seine Freilassung nach 81 Tagen Haft verdankt er nicht zuletzt auch Angela Merkel, davon ist Ai überzeugt. In Deutschland startete auf der Documenta seine internationale Karriere, die Bundesrepublik stellte ihn 2013 auch ins Zentrum ihres offiziellen Beitrags für die Biennale di Venezia.
Worin das Treuebündnis zwischen dem chinesischen Künstler und den Deutschen genau besteht, ist eher diffus. Es mag mit der Vergangenheit, den dissidentischen Erfahrungen von Künstlern in der NS-Zeit und der DDR, dem hierzulande besonders ausgeprägten Glauben an die Symbolkraft der Kunst zusammenhängen. In Ais Werk hat die Widerständigkeit längst eine andere Qualität erreicht, indem er sich der sozialen Netzwerke bedient. Der meisterhafte Kommunikator mobilisiert Kräfte, die die Staatsmacht kaum noch kontrollieren kann.
So werden in der Ausstellung wie nebenbei auf einem Computer erneut all die Namen der 5200 beim Erdbeben von Sichuan verunglückten Schüler genannt. Angeblich sei ihre genaue Zahl nicht zu erfassen, hatten die offiziellen Stellen 2009, ein Jahr nach dem Unglück, erklärt. Ai Weiwei rekrutierte daraufhin via Internet Freiwillige für eine eigene Recherche und stellte die Liste online. Die Kritik könnte nicht größer sein: Der Staat als Kindermörder, denn die Schulen entsprachen nicht den baulichen Standards, die „Tofu-Krümel“, wie sie heute genannt werden, gaben mit der ersten Erschütterung nach.
„Evidence“ hat Ai Weiwei seine Ausstellung überschrieben, zu deutsch: „Beweis“, wie man den Begriff aus den USamerikanischen Gerichtsserien kennt. „Ich will die Wahrheit ans Licht bringen“, sagt der Künstler. Wenn nicht in China, dann vor den Augen der Welt.
Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, bis 7. Juli.; Mi bis Mo 10 – 19 Uhr. Katalog (Prestel Verlag) 39,95 €. Mehr über den Künstler Ai Weiwei finden Sie auf unserer Themenseite.