"Zement" am Gorki Theater: Apparatschiks auf der Geschichtsmülldeponie
Sebastian Baumgarten inszeniert Heiner Müllers „Zement“ am Berliner Maxim Gorki Theater als aufschlussreichen Historien-Comic.
Russland 1921: Der Schlosser Gleb Tschumalow kehrt aus dem Bürgerkrieg heim und findet statt sozialistischer Aufbau-Euphorie flächendeckende Resignation vor. Die Zementfabrik, in der er einst gearbeitet hatte, ist zum Ziegenstall verkommen. Und die menschliche Zukunft verhungert im Kinderheim. Zwar wird Tschumalow das symbolschwangere Zementwerk unter heftigen realsozialistischen Geburtswehen wieder in Gang bringen. Doch die dreckige Realität hat die lichte Vision längst beschädigt. Bürokratie und Stalinismus beschleichen den „Apparat“.
Heiner Müllers „Zement“ – 1973 von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble uraufgeführt – keilt sich anno 2015 aufreizend quer in den Theater-Zeitgeist. Neben dem Stoff, einer Müllerschen Überschreibung des gleichnamigen GladkowRomans von 1925, verweigert sich auch die erdenschwere Sprache leichthändigen Gegenwartsanschlüssen. Entsprechend selten wird das sozialistische Aufbau-Drama gespielt. Dimiter Gotscheffs monumentale Münchner Inszenierung, die letztes Jahr das Berliner Theatertreffen eröffnete, steht zurzeit ziemlich singulär in der Branchenlandschaft.
Umso spannender, dass jetzt ein diskursaffiner Regisseur der mittleren Generation am Berliner Gorki nachzieht: Sebastian Baumgarten, 1969 in Ost-Berlin geboren, vermutet gerade in diesen Zugriffsschwierigkeiten ein produktives Potenzial. Zwar könne er das direkte Gegenwartsbedürfnis, das das Theater zurzeit „immer häufiger zu einer Art Lebenshilfe bzw. Volkshochschule“ werden ließe, durchaus nachvollziehen, schrieb Baumgarten gerade in der Zeitschrift „Theater heute“. Andererseits fehle ihm darin oft „die Möglichkeit, die gegebenen Verhältnisse als historischen Prozess zu verstehen und damit, nicht nur im Phänomen verhangen, eine Haltung zu dem zu entwickeln, was daraus folgen wird.“
Die Verordnungen der Sowjetmacht werden per Freestyle-Rap vorgetragen
Archäologische Tiefenbohrung zum Zwecke kundiger Gegenwartsreflexion also: Lässt sich dieser erfreulich hohe Anspruch mit Müller auf der Gegenwarts-Bühne tatsächlich umsetzen? Sebastian Baumgarten wählt für seine „Zement“-Version zunächst einmal einen klaren formalen Zugriff: Er rekapituliert die Geschichte als eine Art Historien-Comic. Der Genosse Badjin (Thomas Wodianka) beispielsweise – als Apparatschik ein früher Gegenspieler des basisrevolutionären Schlossers Tschumalow – tänzelt die wechselnden bürokratischen Verordnungen der jungen Sowjetmacht hier in einer Art Freestyle-Rap an die Rampe. Aus dem Off rasselt dazu ein angemessen beliebiger Schreibmaschinensound. Es ist dies ein running gag, dem man – ziemlicher selten im Theater – selbst beim zehnten Mal noch gern zuschaut, weil Wodianka der bürokratischen Verknöcherung tatsächlich nicht nur eine, sondern schätzungsweise 27 hochnotkomische Facetten abzuringen weiß.
Das Gorki-Ensemble zeichnet die Figuren als ambivalente Typen
Kaum hat Badjin den letzten Punkt unter die jüngste Verordnung gehüpft, steht bereits der Genosse Iwagin (Aleksandar Radenković) bereit, um den zuhauf produzierten Papierschnee von gestern auf eine überdimensionale Schaufel zu laden und mit Grandezza in den Theaterkeller zu entsorgen, den Bühnenbildner Hartmut Meyer rampennah geöffnet hat. Auch die Schusswaffe, mit der der Kollege Tschibis (Falilou Seck) zu parteiinternen Säuberungsaktionen antritt, weist etwa Mannsgröße auf. Und der Sound-Effekt beim Durchladen gewinnt fast die Qualität von Vegard Vinges grandiosem Berserker-Theater im Prater.
So klar und naheliegend diese Setzung auf den ersten Blick wirkt: In der Nahsicht erweist sie sich als durchaus hintergründiger Schachzug. Denn innerhalb des Comicrahmens, der zuverlässig als Anti-Pathos-Mittel funktioniert, zeichnen Baumgarten und das Gorki-Ensemble höchst ambivalente Typen. Tschumalow, Badjin und Co. werden nicht denunziert, sondern versuchen als Kippfiguren auf einer Lächerlichkeitsgrenze zu balancieren, die den Ernst des Sujets quasi zur Kenntlichkeit entstellt. Logisch, dass das je nach Akteur und Rolle mal mehr in die eine oder in die andere Richtung ausschlägt (und auch übers Ziel hinausgeht).
Der Ehe-Konflikt spiegelt gesellschaftliche Probleme
Sesede Terziyan etwa agiert die Emanzipationsdramatik, die ihrer Rolle als Glebs Ehefrau Dascha eingeschrieben ist, mit großer emotionaler Ernsthaftigkeit aus: Als hundertprozentig überzeugte Parteifunktionärin hat sie die gemeinsame Tochter Njurka ins Kinderheim gegeben, wo sie im Lauf des Stückes verhungern wird, und offenbart sozusagen die machistische Seite der Revolution. Denn dass sie die große kommunistische Utopie ganz alltagsgegenständlich anwendet und im Dienste der Privatbesitzabschaffung neben dem eigenen Gatten zum Beispiel auch andere Genossen großherzig befriedigt, zeitigt einen gesellschaftsstellvertretenden Ehe-Konflikt. Und der schlägt hier nicht nur die intendierten inhaltlichen Funken, sondern knirscht bisweilen auch spielstilistisch ein wenig. Denn Peter Jordan, der die Gleb-Rolle recht kurzfristig für den erkrankten Till Wonka übernommen hatte, tendiert im Gegensatz zu Terziyan als leicht Hausmeister-affinem Schnurrbartträger eher zu einer naturkomisch-pragmatischen Rollenauslegung.
Allerdings sehen diese Stoffaneignungsunterschiede hier eben nicht nach niedrigschwelligem Scheitern aus, sondern werden, im Gegenteil, als Produkt einer hochtourigen Text-Reflexion umso interessanter. Denn natürlich kann auch Baumgarten dem sozialistischen Aufbaudrama keine global heutige Perspektive abringen. Was er allerdings schafft, sind punktuelle Gedanken- und Assoziationsanlagerungen. Ähnlich wie in seiner Zürcher „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“-Inszenierung, die 2013 beim Berliner Theatertreffen gastierte, kreiert Baumgarten eine Art permanenten Symbolüberschuss. Ständig werden auf der Bühne vermeintlich naturgesetzliche Slogans übermalt, landen Bilder und Requisiten mit lustigen Geräuscheffekten auf dem Geschichtsmüll und flimmern Videos übers Szenario.
Jana Findeklee hat den Schauspielern die Kostüme passenderweise auf den nackten Oberkörper gemalt: Geschichte als verschwimmende Verlaufsform – abwaschbar, aber in der Regel nicht restlos. Am Anfang hatte Thomas Wodianka mit einem Müller-Statement aus den 90ern die „Zement“-Welthistorie gleichsam in der Autor-Biografie verortet. Am Ende wird mit dem Wegfall der sozialistischen Alternative noch einmal das „bürgerliche Subjekt“ problematisiert, das sich via Abgrenzung definiert. Weiter kommt auch Baumgarten mit Müller nicht. Allerdings landet er damit an einer Wegmarke, die nicht allzu oft erreicht wird.
Wieder am 26.1. und 15.2.
Christine Wahl
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