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Der Geschichtenerzähler. John Berger mit Velázquez’ Äsop als Schutzheiligem. Szene aus Cordelia Dvoráks Film, der am Montag in der Volksbühne gezeigt wird.
© ma.ja.de /ARTE

Kultur: Das Lesen der Bilder

Zum 90. Geburtstag: eine Liebeserklärung an den britischen Erzähler, Dichter und Essayisten John Berger.

Wem hat er mit einer überraschenden Beobachtung nicht schon einmal die Augen geöffnet. Wie viele hat er berührt und für immer in Bann geschlagen. Und was für grundverschiedene Temperamente berichten, er habe gar ihr Leben verändert. Der Brite John Berger zieht mit seinen zutiefst materialistischen, bis heute von unorthodoxen marxistischen Leidenschaften durchglühten Büchern den Naturmystiker Peter Handke ebenso an wie den kirchenfernen Katholiken Christian Bobin. Der schottische Dichter John Burnside, ökologie- und malereibewegt wie er, nur mit einem abgründigeren Sinn für alles Kreatürliche, verdankt ihm nicht weniger aufrüttelnden Trost und Geistesblitze als der Mazedonier Nikola Madzirov.

Wer einen Eindruck von Bergers Einfluss gewinnen will, musste nicht erst auf den internationalen Chor warten, der ihm in poetischen und essayistischen Festschriften zu seinem 90. Geburtstag am heutigen Samstag gratuliert. Es genügt, den einen Satz aus seinem 1972 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „G.“ zu nehmen, der sowohl als Motto des Kanadiers Michael Ondaatje als auch der Inderin Arundhati Roy um die Welt gewandert ist: „Nie wieder wird eine einzige Geschichte so erzählt werden, als wäre sie die einzige.“

Bergers Plädoyer für die Vielstimmigkeit einer Geschichte von unten ist nie lebendiger geworden als in den Figuren seiner 1979 begonnenen Trilogie „Von ihrer Hände Arbeit“. Mit den Erzählungen von „SauErde“ und „Spiel mir ein Lied“ und dem Roman „Flieder und Flagge“ schrieb er einen Abgesang auf die bäuerliche Welt im französischen Hochsavoyen, wo er in Quincy von 1972 an vier Jahrzehnte lang hauptsächlich lebte. Seit dem Tod seiner Frau Beverly Bancroft 2014 lebt er nun mit seiner alten Freundin, der Schriftstellerin und Schauspielerin Nella Bielski in Antony, einem Vorort im Süden von Paris.

Chronik einer Epochenschwelle

„Von ihrer Hände Arbeit“ war die Chronik einer Epochenschwelle, weg von einer Kultur des Überlebens, hin zu einer Kultur des Überflusses. Die Stadt avancierte zum alles beherrschenden Modell und Versprechen und verweigerte den Arbeitsmigranten, die vom Lande kamen, doch eine neue Heimat.

In den tausend Varianten der Leseliebesgeschichten, die sich an seine Bücher knüpfen, lässt sich die Aufforderung zur Polyphonie aber auch auf sein eigenes Werk anwenden. Wer könnte sich nicht daran erinnern, wie er Bergers Ton verfiel, der zwischen den eigentlich unvereinbaren Polen von Poesie und Rhetorik, Leichtigkeit und Strenge, zärtlicher Vorsicht und apodiktischer Entschlossenheit unwiderstehlich vermittelt. Und wer hätte nach Jahren des Lektüreglücks mit dem gravitätischen Schweben seiner Dialoge und der dezenten Didaktik seiner Kunstbetrachtungen nicht auch gelegentlich nach Abstand getrachtet, nach Trennung auf Zeit, um doch wieder zu Bergers Prosa zurückzukehren.

Für den Amerikaner Teju Cole war die alles verwandelnde Lektüre Bergers autobiografisch inspirierter Reigen „Hier, wo wir uns begegnen“, ein Totenbuch, das verstorbene Freunde und Weggefährten wie selbstverständlich in der Gegenwart auftauchen lässt. Gleich zu Anfang begegnet der Erzähler etwa in Lissabon seiner Mutter. Cole frappierte, wie überzeugend Erlebtes und Erfundenes hier einander durchdringen, ein Grenzgängertum, an dem sich auch seine eigenen Bücher bewegen. Für Simon McBurney, den genialen Kopf des Théâtre de Complicité, der Teile von Bergers „Pig Earth“ auf die Bühne brachte, war es der Essay „Und unsere Gesichter mein Herz, vergänglich wie Fotos". Auf kaum mehr als hundert Seiten, auf denen immer wieder Gedichte eingestreut sind, denkt er über die Kategorien von Zeit und Raum nach, über Augenblick und Ewigkeit, Liebe und Sexualität, individuelles Schicksal und kosmisches Zuhause, modernes Nomadentum und Vertreibung.

Berger lehrt seine Leser, dass Prägnanz und Verbindlichkeit beim Festhalten eines Gedankens oder einer Erfahrung entscheidend sind, dass man dabei aber hemmungslos auf die Autorität des Ichs zurückgreifen darf, sofern dieses sich an ein Du wendet, das dadurch auf seine eigene Subjektivität stößt. Woraus im besten Fall ein Wir entsteht, das Berger als Personalpronomen wie als Idee von Solidarität gerne in Anspruch nimmt.

Das Zeitmaß des Menschen und der Berge

Der Geschichtenerzähler. John Berger mit Velázquez’ Äsop als Schutzheiligem. Szene aus Cordelia Dvoráks Film, der am Montag in der Volksbühne gezeigt wird.
Der Geschichtenerzähler. John Berger mit Velázquez’ Äsop als Schutzheiligem. Szene aus Cordelia Dvoráks Film, der am Montag in der Volksbühne gezeigt wird.
© ma.ja.de /ARTE

So beginnt „Unsere Gesichter“ mit den Versen eines Ichs, das im Portemonnaie dem Bild eines abwesenden Dus begegnet. Ein alltägliches Stück sichtbarer Vergänglichkeit, dem im Gedicht das so ganz andere Zeitmaß der savoyischen Voralpen gegenübertritt. Und mit dem ersten Prosasatz geht es noch weiter hinaus aus den Dimensionen des menschlichen Bewusstseins.

Erst hoppelt ein Hase auf zweitausend Metern Höhe vorbei. Dann spielt selbstvergessen ein Kätzchen mit sich und weißen Papierschnipseln. Und schließlich tut sich der Sternenhimmel auf – als Urerfahrung von Konstellationen, die es zu lesen und zu deuten gilt. Wie John Bergers Essays ihr stilles Pathos in der Trias von radikal subjektivem Ausgangspunkt, philosophischer Doktrin und der Anrufung künstlerischer Schutzgeister entfalten, ist stets von neuem ein Abenteuer. Manchmal wechseln sie den Fokus von einem auf den anderen Satz. Aus diesem Zusammenschießen des zuvor Unverbundenen resultiert ihre Wucht.

In jüngster Zeit haben sich zu den Wörtern vermehrt Zeichnungen gesellt. Noch vor zwei Jahrzehnten, in „Eher ein Begehren als ein Geräusch“, dem Katalog zu einer Berger-Ausstellung im oberbayerischen Issing, hatte er erklärt: „Mein Schreiben, so wie es nun mal ist, meine Zeichnungen, so wie sie eben sind, unterhalten sich nicht miteinander.“ Er zeichne, sagte er, wenn er es nicht mehr ertrage, weiterzuschreiben und eine Art Unschuld wiederfinden wolle. „Eine Unschuld im Sinne des Staunens über das, was ist. Und wenn ich schreibe, trachte ich danach, die Worte so zu setzen, dass sie Umrisse, Konturen oder Grenzen besitzen – alles ist Raum. Ich zeichne mit der Hand, und ich schreibe mit der Kehle. Papier und Atem. Gemeinsam kommen sie nicht weit.“

Hommage an Spinoza

Er, der seinen Lesern Tizian, Velázquez, Rembrandt und Caravaggio zum Schrecken mancher Kunsthistoriker in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit nahegebracht hat, ist damit nicht auf Illustration aus. Schon die Bücher, die er zusammen mit dem Fotografen Jean Mohr machte (gerade ist „Der siebte Mensch“ über die europäischen Arbeitsmigranten der siebziger Jahre neu erschienen), lebten vom wechselseitigen Kommentar der Gattungen. Und so ist auch „Bentos Skizzenbuch“, seine Hommage an den Philosophen Spinoza, eine Zusammenführung von Zitaten aus dessen „Ethik“, aus freien Erzählstücken und Zeichnungen, die in die Lücke vorstoßen, die das nie aufgefundene Skizzenbuch dieses Denkers der totalen Immanenz hinterlassen hat.

So durchlässig die Gattungen geworden sind, so standhaft unversöhnlich ist Berger im Politischen geblieben. Vielleicht ist es nicht originell, den Versprechungen der Warenwelt zu mistrauen, indem man einen zum reinen Abverkauf bestimmten, von lauter prekären Existenzen frequentierten Megadiscount-Supermarkt besucht und ihn mit dem Treiben eines Straßenmarktes kontrastiert. Aber Berger kann solche Szenen mit einer Eindringlichkeit schildern, die auch dem Unbedarftesten eine Vorstellung davon gibt, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie sind.

Seine Bücher geben keine Handlungsanweisungen, aber sie fordern ihre Leser auf, sich zu verhalten, und sie pflanzen ihnen einen gesunden Widerstandsgeist ein, der mehr als nur ein Gefühl von Freiheit in sich trägt. „Der Segen der Sprache liegt darin, dass sie potenziell vollkommen ist“, heißt es in „Unsere Gesichter“. Sie hat „die Möglichkeit, mit Worten die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung zu umfassen – alles, was geschehen ist und alles, was vielleicht geschehen wird. Sie gesteht sogar dem Unaussprechlichen Raum zu. In diesem Sinn kann man von der Sprache sagen, dass sie potenziell die einzige Heimat des Menschen ist, die einzige Bleibe, die ihm nicht feindlich begegnen kann.“ John Berger darf sich rühmen, sie entschieden bewohnbarer gemacht zu haben.

Neuerscheinungen von und zu John Berger

John Berger oder Die Kunst des Sehens. Film von Cordelia Dvorák. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Montag, 7.11., 22 Uhr. Mit anschließender Diskussion.

John Berger: Der Augenblick der Fotografie. Essays. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes u.a. Hanser Verlag, München 2016. 272 Seiten, 22 €.

John Berger, Jean Mohr: Der siebte Mensch. Eine Geschichte über Migration und Arbeit in Europa. Aus dem Englischen von Nils Thomas Lindquist. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2016. 256 S., 9,99 €.

John Berger: Confabulations. Penguin Books, London 2016. 160 S., 6,99 £.

John Berger, John Christie: Lapwing & Fox. Conversations. Objectif Books, London 2016.288 S.,28 £.

Tom Overton (Hg.): Landscapes. John Berger on Art. Verso Books, London 2016. 272 S., 16,99 £.

Amarjit Chandan u.a. (Hg.): A Jar of Wild Flowers. Essays in Celebration of John Berger.

ZED Books, London 2016. 416 S., 70 £.

Amarjit Chandan u.a. (Hg.): The Long White Thread of Words. Poems for John Berger. Smokestack Books, Grewelthorpe 2016. 160 S., 9,99 £.

Gregor Dotzauer

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