Kultur: Ich erwarte deinen Körper
Eine Liebesgeschichte in Briefen: John Berger erzählt von „A und X“
John Berger:
A und X. Eine
Liebesgeschichte in Briefen. Aus dem
Englischen von Hans Jürgen Balmes.
Hanser Verlag,
München 2010.
208 Seiten, 18,90 €.
In dem wunderbaren Roman „Auf dem Weg zur Hochzeit“ (1995) des Schriftstellers, Filmemachers und Malers John Berger erzählt ein blinder Mann die Geschichte einer jungen Liebe, die zum Scheitern verurteilt ist. Ninon, die Braut, hat Aids und wird wohl sterben. Im Hauptberuf verkauft der blinde Erzähler in der Innenstadt von Athen Tammata. Ein Tama ist ein schmaler Blechstreifen, in den ein Motiv eingestanzt ist. Das Wort kommt von dem griechischen Verb tázo: ein Gelübde ablegen. „Dafür, dass sie ein Versprechen abgeben, erhoffen sich die Menschen Gnade oder Errettung.“ Ehe seine Kunden zum Beten gehen, erklärt der Erzähler, „kaufen sie bei mir ein Tama und ziehen ein Band durch das Loch, dann binden sie es bei den Ikonen in der Kirche an die Altarschranke. Und so hoffen sie, dass Gott ihr Gebete nicht vergisst.“ Bergers ganzes Buch ist ein Tama – für das Heil der todkranken Ninon, eines „aus Stimmen“, wie es heißt. „Legen Sie es neben die Kerze, wenn sie beten“, lautet der letzte Satz.
John Berger, der 1926 geboren wurde und seit langem in einem Bergdorf in der französischen Schweiz lebt, stanzt seit Jahrzehnten berührende Sprach-Tammata, die eine tröstende Verbindung zur Ewigkeit herstellen, ohne dabei dem irdischen Leben seinen Schmerz zu nehmen. Im Fokus seiner mitfühlenden Aufmerksamkeit stehen die einfachen, erdverbundenen Menschen („Von ihrer Hände Arbeit“) und die Ausgegrenzten, genauso auch Tiere („King“) oder Landstriche und Dinge, die vom Verschwinden bedroht sind („Gegen die Abwertung der Welt“). Dabei ist es egal, ob Berger über Kunst schreibt, kleine Menschenporträts oder eben Romane verfasst – seine Schreibweise ändert sich kaum. Seine Essays sind anschaulich und tendieren zum Denkbild, umgekehrt trägt die Prosa aphoristische Züge. Bergers Erzählen zerfällt in kleine funkelnde Einheiten, die manchmal nur wenige Sätze kurz sind und kaum länger als wenige Seiten.
Er hat als Maler begonnen und bildet auch mit der Sprache durchgeistigte Bilder, die man beim Lesen wie Gemälde betrachtet, um dann – etwas stockend – zum nächsten zu springen. Die Miniaturen fangen entweder profane Alltagsszenen ein oder verknüpfen das Konkrete mit dem Allgemeinen. Die Verlangsamung der Lektüre ist dabei Programm.
Die Vor-, aber auch die Nachteile einer solchen Schreibweise liegen auf der Hand. Die Zartheit ist schlicht herzzerreißend, auf Dauer kann dennoch ein Unmut darüber entstehen, vom Autor gegängelt zu werden. Die Dinge werden in seinem Blick zwar wundersam durchsichtig, aber Berger lässt es sich nicht nehmen, auch auszusprechen, was es ist, dass da hervorscheint. Ein Tango ist da eben nicht nur ein Tanz, sondern gleich „das Strandgut des Lebens“, heißt es in seinem neuen Roman „A und X“. Eine Laute darf auch nicht nur Laute sein, sondern verwandelt sich, „sobald du sie in deinem Schoß wiegst“, in einen Mann. Kurz: Berger sieht nicht nur das Heilige im Profanen, das Heilige klingt bei ihm manchmal auch etwas zu süßlich und wird am Ende eines Abschnittes gern zum Sinnspruch zusammengeschnürt – wie zum Mitnachhausenehmen. „Auf der Welt zu sein bedeutet Schmerz – das Gedicht hat recht –, heute Nacht möchten meine Hände dich trösten.“
Gerade darum geht es in „A und X“. Um einen bodenlosen Schmerz und um die fast übermenschliche Fähigkeit, Trost zu spenden. „A und X“ ist doppelt herzzerreißend. Durch Bergers Schreibweise. Und durch das Setting des Romans. Denn die Handlung spielt in einem nicht näher benannten Land, in dem bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Bedrohung und Angst liegen in der heißen Luft. Hin und wieder zeigen sich Kampfhubschrauber am Himmel.
A und X, das sind Aída und Xavier. Sie ist Apothekerin, er ist Handwerker, der auch Flugzeuge fliegen kann, also einer jener typischen Berger-Männer, zupackend und von wissender Wortkargheit. Herzzerreißend ist, dass die beiden seit vielen Jahren getrennt sind, denn beide sind Widerstandskämpfer, und Xavier sitzt im Gefängnis, verurteilt zu „zweimal lebenslänglich“. Aída schreibt ihm Briefe, in denen sie ihm vom Alltag, von Begegnungen, Wahrnehmungen, Schicksalen Bekannter oder Unbekannter berichtet, die – ausgesprochen oder unausgesprochen – die kaum zu ertragende Situation der beiden reflektieren und letztlich doch ein Zeichen des Mutes sein müssen, ein Zuspruch, eine Handreichung.
Der Bericht über die Selbstvergessenheit eines Bäckers zum Beispiel, der mit mönchischer Konzentration den Brotlaib aus dem Ofen holt und dabei die Kunden keines Blickes würdigt, wird zu einer Meditation über das Warten an sich: „Zwischen Hoffnung und Erwartung ist so ein großer Unterschied. Zuerst dachte ich, es sei eine Frage der Dauer und dass die Hoffnung sich auf etwas weiter Entferntes richtet. Ich habe mich geirrt. Die Erwartung gehört zum Körper, die Hoffnung zur Seele. Das ist der Unterschied. Die beiden stehen im Dialog, spornen einander an und trösten sich gegenseitig, aber ihr Träume sind verschieden. Und ich habe noch etwas gelernt. Die Erwartung eines Körpers hat genauso viel Dauer wie jede Hoffnung. Wie die meine, die deinen Körper erwartet.“
Die Intensität, mit der Aída durch ihre Briefe Nähe aufbaut, reißt auch jedes Mal die Wunde der Sehnsucht wieder auf. Der Schmerz geht umso tiefer, als Xavier die Briefe gar nicht zu Gesicht bekommt. Auf Seite 62 erfährt man: „Mein Erdlöwe, wir wissen beide, dass einem zu Einzelhaft Verurteilten der Empfang und das Verfassen von Briefen verboten ist, aber das hält mich nicht davon ab, Dir zu schreiben.“
Es ist erschütternd. Die beiden stehen, wenn überhaupt, nur in telepathischem Kontakt. Aídas Briefe sind also vor allem Selbsttröstungen, zu Xavier weisen sie mehr als Geste hin, in der Hoffnung freilich, dass das Wesen der geschriebenen Worte, ihre Kraft gebende Liebe, sich indirekt vermittelt, über die Atmosphäre, über die Luft, über das unsichtbare kosmische Netz, das – dies suggeriert jede Seite dieses Buches – alles mit allem verbindet.
Und hier knirscht etwas im Gebälk. Der mystische Realismus bekommt etwas Forciertes, Trickhaftes. Es ist klar, dass Berger diese Geschichte stellvertretend für all die schreibt, die keine Sprache für ihr Leiden haben. Für diejenigen, die der Schmerz stumm macht. Und sicher kennt die Wirklichkeit noch viel grausamere Konstellationen. Doch im Buch wirkt die Entscheidung, dass die Briefe nicht ankommen dürfen, wie ein Wirkung steigerndes Mittel, wie ein Effekt, der die Ohnmacht vergrößert, um Aída die Züge einer Heiligen, eines Engels zu verleihen, der „das Futter der Stille mit Zärtlichkeit auskleidet.“
Es spricht vieles dafür, dass Aídas Verwandlung in einen Engel wörtlich zu verstehen ist. Im letzten Brief heißt es: „Ich bin stolz auf uns. Und wenn ich daran denke, werde ich zu einer dritten Person, weder Du noch ich, und Du wirst zu dieser dritten Person – jenseits von Ja und Nein!“ Esoteriker würde diese „dritte Person“ wohl als „höheres Selbst“ bezeichnen, als den Bewusstseinssplitter, der in uns ist und zugleich den Beschränkungen des Körperlichen enthoben und also Aída und Xavier gemeinsam in sich aufnehmen kann. Märchenhafterweise werden die Briefe am Ende sogar in Xaviers Zelle gefunden. Allerdings ist Xavier weg – tot oder entstofflicht zur „dritten Person“. Man hält „A und X“ nach der Lektüre wie etwas Kostbares in Händen. Nur ist dieses Mal in das Strahlen, das auch von diesem Berger-Buch ausgeht, etwas zu viel Kunstlicht gemischt.
Andreas Schäfer
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