Deutscher Filmpreis 2020: Das Kino ist wieder da
Die Lola-Verleihung war eine Werbesendung für den deutschen Film. Mit Debüts wie „Systemsprenger“ sieht die Zukunft rosig aus.
So harmoniebedürftig wie an diesem Freitagabend hat man den deutschen Film lange nicht mehr erlebt. Jeder will irgendwen umarmen, Glückwünsche und Danksagungen werden über Tausende von Kilometern verschickt und Moderator Edin Hasanovic macht aus der Not eine Tugend, indem er zu seinem Eröffnungsmonolog einen Solotanz durch die deutsche Filmgeschichte hinlegt. Auch die 70. Verleihung des Deutschen Filmpreises wird in die Geschichte eingehen, in die des Kinos und des Fernsehens.
Aber so viel ist nach diesem Abend sicher: Niemand legt besonderen Wert darauf, dass sich solch ein TV-Ereignis wiederholt. Das macht Staatsministerin Monika Grütters, aus deren Haushalt die knapp drei Millionen Euro Preisgelder kommen, am Ende der zweieinhalbstündigen Sendung deutlich, bevor sie und Filmakademie-Präsident Ulrich Matthes den achten und letzten Preis, die Lola in Gold für den besten Spielfilm, “Systemsprenger” verleihen. Zuvor hat Nora Fingscheidt bereits den Regie-Preis erhalten. Dass sie wie alle Sieger an diesem Abend lediglich per Video zugeschaltet ist, hinterlässt einen faden Beigeschmack.
Helena Zengel ist der Shooting Star des Jahres
Fingscheidt dreht gerade in Vancouver, den Abschluss der phänomenalen Erfolgsgeschichte von “Systemsprenger” können die Beteiligten nicht zusammen feiern. Immerhin darf Helena Zengel, die den Preis für die beste weibliche Hauptrolle gewinnt, bis Mitternacht aufbleiben.
Die Elfjährige ist zweifellos der Shooting Star des Jahres, gerade hat sie mit Tom Hanks in den USA gedreht. Systemsprengerin Benni ist eine der außergewöhnlichsten und schwierigsten Kinderrollen der vergangenen Jahre, die acht Lolas sind genauso Zengel zu verdanken wie ihrer Regisseurin.
Das Tageslicht, das zu später Stunde durch Fingscheidts Hotelzimmerfenster ins Sendestudio in Berlin-Adlershof fällt, ist auch eine schöne Abwechslung zur wuchtigen Lichtdramaturgie auf der vereinsamten Bühne. Dass bei ihrer Dankesrede für den Regiepreis die transatlantische Leitung schließlich zusammenbricht, lässt sich vielleicht als Sinnbild für die ganze Veranstaltung verstehen.
Ein Schaufenster für den deutschen Film
Sie haben diese Live-Sendung mit vereinten Kräften hinter sich gebracht, die künstlerische Leiterin Sherry Hormann, Edin Hasanovic, die Filmakademie, der
versammelte deutsche Film. Alle dürfen stolz sein, dass sie in einer Zeit, in der das kulturelle Leben eingeschränkt ist, dem Kino solch ein Schaufenster gegeben haben.
Das Ergebnis gerät dabei fast zur Nebensache, es ist zugegebenermaßen auch so vorhersehbar wie selten. Allenfalls “Toni Erdmann” fällt einem aus der jüngeren Vergangenheit ein. “Systemsprenger” ist der Konsensfilm des Jahres. Dass Fingscheidts Spielfilmdebüt hingegen weder für den Oscar nominiert war, noch beim Europäischen Filmpreis einen der Hauptpreise gewann (John Gürtler wurde für den Score ausgezeichnet), ist bei aller Euphorie allerdings auch eine Erinnerung daran, dass der deutsche Film 2019/20 ein regionales Phänomen bleibt.
Man wird sich an das Frühjahr 2020 noch lange erinnern. Als die Kinos ihre bisher größte Krise erlebten, schlimmer als nach der Einführung des Fernsehens oder durch den Erzfeind Netflix. Als Burhan Qurbanis Döblin-Interpretation “Berlin Alexanderplatz” zwar fünf Lolas gewann, darunter die Lola in Silber, aber bislang nicht regulär im Kino zu sehen war.
Als Albrecht Schuch gleich beide Darstellerpreise abräumte, für seine Nebenrolle in “Berlin Alexanderplatz” und seine Hauptrolle in “Systemsprenger”. (Zuletzt war das 2016 Laura Tonke mit “Mängelexemplar” und “Hedi Schneider steckt fest” gelungen) Und als Edin Hasanovic seine einstige Tanzpartnerin Iris Berben gemäß den Gesundheitsauflagen auf Sicherheitsabstand hielt.
Ohne Publikum verpuffen die Pointen
Der Moderator war um seine Rolle nicht zu beneiden. Man kann diese Hilflosigkeit auch bei den Moderatoren der amerikanischen Late-Night-Talkshows beobachten, die momentan aus ihren Häusern senden. Ohne Publikumsreaktionen verpuffen die besten Pointen im Nichts; und die schlechten hängen zu lange in der Luft wie bei den Furzwettbewerben, die Schuch und Zengel – so lässt sich zumindest die Andeutung in seiner Dankesrede verstehen – während der Dreharbeiten zu “Systemsprenger” veranstalteten.
Hasanovic bewegt sich in den zwei Stunden durch eine Installation aus Leinwänden, die ein wenig an Hasan Minhajs Netflix-Show “Patriot Act” erinnert. Die gelbe Telefonzelle aus der Ära der alten Bundesrepublik ist eine nette Requisite, die die Sehnsucht nach einer Zeit vor Corona noch bestärkt.
Aber die Show ist ultimativ auch eine Ermahnung daran, dass das Kino zwischenmenschlichen Austausch benötigt. Hasanovic kalauert um sein Leben, doch manchmal scheitern die Gespräche schlicht daran, dass der Dialog über eine Videoschalte eben doch keinen Sozialkontakt ersetzt. Bei einer Preisgala wird das umso schmerzlicher bewusst.
Das Kino ist der beste Sonnenschutz
Gabriela Maria Schmeide, die für ihre Nebenrolle als Sozialarbeiterin Frau Bafané in "Systemsprenger" ausgezeichnet wird, bringt in ihrer Dankesrede – vor einer Waldtapete – auf den Punkt, was an diesem Abend wohl viele denken. Wenn der Sommer kommt, werden Kinos und Theater der beste Sonnenschutz für kulturhungrige Menschen sein.
In der Zwischenzeit bleibt der Filmbranche nichts anderes übrig, als es symbolisch Glitzerkonfetti regnen zu lassen – auch wenn den Konfettiregen Schmeide zu Hause vor dem Computer übernehmen muss.
Gelegentlich überkompensieren Hasanovic und seine Jungs, Fahri Yardim oder Ronald Zehrfeld beispielsweise, der auf einem Motorrad reingerollt kommt, die Einsamkeit auf der Studiobühne mir markigen Worten. Es sei dahingestellt, ob Albrecht Schuch wegen seiner zwei Lolas gleich eine “geile Sau” ist. Aber man merkt an der mitunter launigen Aufgedrehtheit wieder, dass die Sprache ins Leere geht, wenn sie kein physisches Gegenüber findet.
Der deutsche Film braucht Schützenhilfe vom Fernsehen
Die Coronakrise sollte als Chance fürs Kino begriffen werden. Die beiden Sieger des Abends gehen mit völlig unterschiedlichen Perspektiven ins Jahr 2020. “Systemsprenger” ist längst fürs Heimkino erhältlich, “Berlin Alexanderplatz” dagegen könnte im Spätsommer zuschauertechnisch von der neuen Lust auf richtiges Kino profitieren.
Der Filmpreis ist seit jeher eine Werbeveranstaltung für den deutschen Film, aber nie konnte der diese Schützenhilfe so gut gebrauchen wie jetzt. Da verzeiht man auch den einen oder anderen verbalen Aussetzer.
Hoffnung kommt ausgerechnet aus Vancouver. Dass Nora Fingscheidt schon wieder dreht, ist ein gutes Zeichen für das deutsche Kino, in dem der zweite Film oft schwieriger zu finanzieren ist als der erste. Fingscheidt hat es geschafft, dass drei Darstellerpreise an ihr Ensemble gingen. Der deutsche Film braucht mehr von solchen Regisseurinnen.
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