Sieg beim ESC 2022 in Turin: Das Kalush Orchestra hat seine Mission erfüllt
Die Ukraine hat den Eurovision Song Contest verdient gewonnen. Es war ein unterhaltsamer Abend, allerdings mit wenigen großen Highlights.
Drei Mal schlägt sich Oleh Psiuk aufs Herz. Gerade hat der Rapper den Auftritt seiner Band Kalush Orchestra im ESC-Finale von Turin mit den Worten „Ich bitte euch alle: Helft jetzt der Ukraine, Mariupol, Asowstal“ beendet – und damit für den Moment gesorgt, der das extreme Auseinanderklaffen der europäischen Realitäten an diesem Abend am deutlichsten demonstriert: Das Kalush Orchestra kommt anders als die übrigen 24 Finalteilnehmenden aus einem Kriegsgebiet.
Die sechs Männer im wehrpflichtigen Alter brauchten eine Sondergenehmigung, um überhaupt anreisen zu können. Natürlich haben sie die Lizenz zum Singen bekommen, denn jeder Auftritt ukrainischer Musiker*innen ist derzeit auch eine Unterstützungsmission für das von Russland angegriffene Land.
Beim Publikum holt die Ukraine sensationell viele Punkte
Oleh Psiuk, der stets mit seinem pinkfarbenen Anglerhut auftritt, hat das nach dem Halbfinale so formuliert: „Wir sind hier, um zu zeigen, dass ukrainische Kultur und ukrainische Musik existieren. Sie sind am Leben.“ Und wie! Mit ihrem komplett auf Ukrainisch gesungenen und gerappten Song „Stefania“ gewinnen Kalush Orchestra den Wettbewerb.
Dabei kommt es zu einem echten Herzschlagfinale, denn nachdem die nationalen Fachjurys ihre Stimmen abgegeben haben, liegt die Ukraine noch auf Platz vier hinter Großbritannien, Schweden und Spanien. Doch dann werden die Stimmen der Fernsehzuschauer*innen (in Deutschland verfolgen 7,3 Menschen das Finale) angesagt und die Ukraine erhält sensationelle 439 Punkte, was sie uneinholbar auf den ersten Platz katapultiert.
Das sind mitnichten nicht nur Sympathiepunkte für ein Land unter Bomben, denn „Stefania“ ist ein starker Song, der geschickt traditionelle Elemente wie die Telinka-Flöte mit Rap und einen an die neunziger Jahre erinnernden Beat verbindet. Das der Mutter von Oleh Psiuk gewidmete Lied geht sofort ins Ohr und in die Beine.
Das kann man wahrlich nicht von vielen Songs behaupten, die während des zweistündigen Showteils vorgetragen werden. Es gibt viel soliden Dancepop, etwa aus Schweden, Spanien, Belgien und Norwegen, doch nichts davon wird über den ESC hinaus den Sound dieses Jahres bestimmen. Noch am nächsten dran an einem europäischen Hit ist Sam Ryders „Space Man“. Mit dem von Queen und David Bowie inspirierten Stück kommt der Brite auf den zweiten Platz und beendet die lange ESC-Misere seines Landes.
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Bei den Balladen bietet der Wettbewerb einige emotional aufgepumpte, aber kaum einmal zu Herzen gehende Lieder. Polen, Aserbaidschan, Italien und Portugal gehören in diese Kategorie, wobei die Niederlande mit S10s „De Diepte“ eine erwähnenswerte Ausnahme bilden. Die 21-jährige Sängerin legt so viel Wärme in den schlichten „UhhhhAhhh“-Refrain, dass man sich dem kaum entziehen kann – es reicht für Platz elf.
Auch Sheldon Riley aus dem ESC-Ehrenmitgliedsland Australien sorgt mit „Not The Same“ für einen Lichtblick im Balladenfach. Der offen schwule Sänger, der mit dem Asperger Syndrom lebt, schwingt sich in seiner AußenseiterHymne in ergreifende Höhe. Mit seiner meterlangen weißen Schleppen sowie einer Glitzersternchen-Maske setzt Riley auch einen modischen Akzent. Was ihm am Ende Platz 15 einbringt.
Schlusslicht wird mal wieder Deutschland. Malik Harris bekommt für „Rockstars“ keinen einzigen Jurypunkt und lediglich sechs vom Publikum, was angesichts seines netten Lorde-trifft-EminemSongs doch etwas hart erscheint. Allerdings wirkt der allein auftretende 24-Jährige in seinem grauen Shirt zwischen all den Instrumenten ein wenig verloren. Auch die quasi nicht vorhandene Lightshow macht seinen Auftritt nicht eben zu einem Hingucker.
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Ganz anders Konstraktas fast wie eine Kunstperformance inszenierter Vortrag von „In corpore sano“: Die serbische Sängerin, die auch als Architektin arbeitet, sitzt während des gesamten Liedes in der Bühnenmitte und wäscht sich in einer weißen Schüssel die Hände, zwischendurch reichen ihr aus dem Kreis der umstehenden fünf Personen immer wieder jemand ein Handtuch. Klatschend begleitet Konstrakta die Refrain-Zeilen „Umetnica mora biti zdrava/ Biti zdrava, biti zdrava/ Biti zdrava, biti-biti-biti-biti zdrava“ (Die Künstlerin muss gesund sein/ Gesund sein, gesund sein“).
Damit kritisiert sie nicht nur die gesellschaftliche Gesundheitsbesessenheit und den dazugehörigen Konsumzwang, sondern zitiert auch eine Performance der serbischen Künstlerin Marina Abramović , die sich 1975 bei einer Performance 14 Minuten lang intensiv die Haare kämmte und dabei „Art must be beautiful… Artist must be beautiful…“ sagte. Konstraktas Hommage ist ein Highlight des Abends – und landet auf Platz fünf.
Der Trend zu englischsprachigen Liedern ist beim ESC schon seit einigen Jahren gebrochen. Diesmal tragen elf der 25 Interpret*innen ihre Stücke ganz oder zum größten Teil in ihren Landessprachen vor, wobei Alvan & Ahez für Frankreich auf Bretonisch singen. Die Sprachenvielfalt Europas zu erleben, gehört zu den beglückenden Seiten des Finales in Turin.
Moldawisches Rumänisch singen etwa Zdob și Zdub & Fraţii Advahov, die für Moldawien zum dritten Mal am ESC teilnehmen. Bei ihrem überdrehten Polka-Rocksong „Trenuleţul“, der auf Platz sieben kommt, geben Akkordeon und Geige den Ton an. Im Text geht es um eine Zugfahrt von Chișinău nach Bukarest – offenbar eine echte Partybahn. Der Auftritt der munter umherspringenden Band macht jedenfalls umgehend gute Laune.
Das dominierende Gefühl am Ende der mehr als vierstündigen Show ist Freude über den Sieg der Ukraine, die nach 2004 und 2016 zum dritten Mal die Mikrofon-Glastrophäe gewinnt. „Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision!“, schreibt Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Nacht auf Telegram. Europa und alle ESC-Fans hoffen mit ihm, dass dieses Versprechen wahr wird.