Feridun Zaimoglus Luther-Roman „Evangelio“: Das kalte Feuer in den Träumen des Mönchs
In seinem neuesten Roman beschreibt Feridun Zaimoglu wie aus dem Reformator Luther der Junker auf der Wartburg wurde. Ein sprachverliebtes Sittenbild und eindringliches Porträt.
Man wäre gern einmal dabei gewesen bei den Fahrten, die Feridun Zaimoglu mit seinem Freund Günter Senkel nach Wittenberg und Eisenach zur Wartburg gemacht hat, auf den Spuren des Heldens seines neuen Romans „Evangelio“, Martin Luther. Er habe lange auf Senkel eingesprochen, schreibt Zaimoglu am Ende in einer Danksagung, und sich laut eingeübt „in der besonderen Sprache, die ich für meine Geschichte als passend vorsah“. In der heißt es zum Beispiel: „Was sah im Dornbusch der Gesandte Moses? Was sieht der Mönch, wenn in seinen Träumen ein kaltes Feuer brennt? Das Allerheiligste ist das Allerheimlichste. Frevelt er, wenn er Gott übersetzt? Der Herr braucht keinen neuen Namen. (...) Eine Knochenmühle wird die Welt. Er aber vergisst den Schmerz, vergisst den bellenden Leviathan, und übersetzt Gott ins Teutsche.“
Wer bei der Lektüre zur Abwechslung einmal selbst drei, vier Seiten laut liest, kann Zaimoglus Leistung erst in Gänze ermessen – und auch Spaß haben. Denn die Sprache von „Evangelio“ ist durchaus gewöhnungsbedürftig, sie verlangt einiges an Anstrengung. Sie ist einerseits ein aus vielen kurzen Sätzen und allerlei deftigen, ungewöhnlichen, altertümlichen Wörtern bestehendes Kunstprodukt, so wie schon Zaimoglus „Kanak Sprak“ zu Anfang seiner Karriere ein solches war, so wie überhaupt die Sprache in vielen seiner Romane wie „Hinterland“ oder „Ruß“. Andererseits ist sie der Versuch, ganz luthergemäß dem Volk aufs Maul zu schauen, sich einzufühlen in das 16. Jahrhundert, genauer: ins Jahr 1521.
Zaimoglus Ich-Erzähler befindet sich im Widerstreit
Luther ist nach dem Wormser Reichstag von Karl V. in Acht und Bann geschlagen und damit als vogelfrei erklärt worden, weil er sich geweigert hatte, seinen Schriften abzuschwören. Und nun hat ihn der zur Seite stehende Kurfürst Friedrich von Sachsen gewissermaßen in Schutzhaft genommen und auf die Wartburg gebracht: „Ich ward vor viele Herren gerufen, jetzt bin ich gescholten und versteckt, bin ins Rattennest gestoßen“, klagt er zu Beginn seines Aufenthalts. Ihm hat Zaimoglu nun „zu Schutz und Trutz beigestellt“ den Landsknecht Burkhard, mit dem Luther so sein Problem hat: „Ich lob mein Tintenhorn, ich lob meine Feder, er lobt Schwert und Axt, und er lobt den falschen Römerfürst.“
Burkhard ist Zaimoglus Ich-Erzähler, kein über die Maßen glaubwürdiger, weil für einen Mann aus dem Volk ziemlich reflektierter. Burkhard befindet sich in einem existenziellen Widerstreit: Er ist dem Kaiser, dem Papst, den „Römlingen“, der reinen katholischen Lehre treu ergeben, ein Gottesgläubiger und -fürchtiger. Plötzlich muss er ausgerechnet Luther beschützen, vor „Stich und Stoß“, den vermeintlichen Renegaten, den Kirchenreformer – und wird von diesem gelesen wie „ein lateinisch Messbuch“. Was ihn wiederum selbst zu allerlei Luther-Interpretationen veranlasst: „Er möchte den Abgott stürzen, er möchte hassen die Ablassprediger und Messpfaffen, er möcht, dass in armseligen Hütten und in großen Adelshäusern Jesu Geistesart einzieht. Düsteren Sinnes wird er, wenn ihm die Scharen nicht folgen, da er doch das helle Gotteswort verkündet.“
Luther wird vom Teufel angegangen
Natürlich spricht hier der Autor, ein wissender auktorialer Erzähler, nicht der Landsknecht. Doch Luther wird in „Evangelio“ nicht nur mit den Augen Burkhards gesehen, sondern ergreift selbst aktiv in Form von eingestreuten Briefen das Wort. Luther hat von der Wartburg viele Briefe an Freunde und Förderer geschrieben, an seine „Brüder im Bunde“, Philipp Melanchthon oder Georg Spalatin. Doch sind sie in „Evangelio“ fiktiv und demonstrieren, wie gut Zaimoglu sich nicht zuletzt der Sprache seines Heldens anverwandelt, wie hart er überhaupt für diesen Roman recherchiert hat.
Luther oder wahlweise: der Ketzer, der Mönch, Junker Georgen (wie er hier statt Jörg heißt), der Frater, der Meister – er fühlt sich eingesperrt. Er ist sich seines Lebens zwar halbwegs sicher, aber „elendig“ unfrei. Häufig wird er heimgesucht und angegangen vom Teufel, von schwarzen Hunden oder Krähen. Dazu hat er diverse körperliche Zipperlein, auch Depressionen, die ausgerechnet ein jüdischer Arzt kurieren muss. Letzteres ist für Zaimoglus Luther Anlass zu theologischen Erörterungen und antisemitischen Ausfällen, da er glaubt, Heiler Neham Rosenhag als „Jud“ schon riechen und so charakterisieren zu können: „Der Jud wird ohne Schweiß und Arbeit reich. Ich wüsste davon, gäbe es fleißige Juden.“
Der Roman eröffnet einen Zugang zu Wesen und Charakter Luthers
Bisweilen bekommt man zwar den Eindruck, dass Zaimoglu in „Evangelio“ vor allem Szene an Szene reiht: hier eine Hinrichtung, dort eine Jagd, hier ein Freudenhausbesuch seines Knechtes, dort der Auftritt des „Burgfräuleins“, und Lucas Cranach ist auch immer dabei und „meint’s gut mit ihm, das Speckkinn tilgt er dem Mönch“. Doch bei aller Sprachverliebtheit, bei mancher diesbezüglichen Redundanz gelingt Zaimoglu gleichermaßen Sittenbild und eindringliches Luther-Porträt. Dem Wesen und Charakter des Reformators meint man sehr nahe zu kommen, seiner Mischung aus Gotteshingegebenheit und Teufelsfurcht, Luthers Klagen, Unbeirrbarkeit und Getriebenheit.
Am Ende des Romans, da war er heimlich in Wittenberg, macht Luther sich an die Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche – und der Landsknecht wacht weiter über ihn, nicht nur treu, gar aufrichtig, überzeugt davon, dass dem Satan eine „Entzweiung nicht gelingen“ werde. So ist „Evangelio“ dann auch noch ein Entwicklungsroman.
Feridun Zaimoglu: Evangelio. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 348 Seiten, 22 €.
Gerrit Bartels