Jugendsprache: Ethnolekt: Mussu lernen
"Isch gehe gleisch Bibliothek. Isch schwöre, Alta." Wer Hochdeutsch spricht, macht sich verdächtig – und wechselt lieber zu Ethnolekt. Warum eigentlich?
Man muss schon genau hinhören, um ihnen zu folgen. Um die Worte im Kopf zu sortieren und grammatikalische Fehler in Gedanken zu korrigieren. Güldem, Simone und Samira sind hier geboren, sie sind Kinder türkischer, deutscher und ghanaischer Eltern. Die Schülerinnen sprechen fließend Deutsch. Eigentlich. Doch wenn sie zusammen sind, unterhalten sie sich in einem Kauderwelsch, das Sprachwissenschaftler als Ethnolekt bezeichnen.
Wie zum Test rezitieren die Schülerinnen einen Auszug aus „Schneewittchen“, auf Ethnolekt, versteht sich: „Es war ma krasse, geile Tuss, dem hatte Stiefkind. Das hat immer in sein Spiegel geguckt un den angelabert: ,Spiegel, Spiegel an Wand, wer is dem geilste Tuss in Land?‘…“ Die Mädchen müssen lachen, als sie die Sätze betont überspitzt aufsagen. „Wir vermischen unsere jeweiligen sprachlichen Eigenheiten“, sagt Samira, „das hat sich so eingespielt.“
Jugendliche haben sich schon immer durch eine eigene Sprache abzugrenzen versucht. In multikulturellen Großstadtkiezen kreieren sie einen eigenen Slang, der nicht mehr wegzudenken ist. „Kanak Sprak“ hat der in Deutschland lebende türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu diesen speziellen Sprech Ende der Neunziger genannt. Mittlerweile gibt es diverse Lexika, die den Jugendjargon zu erklären versuchen. „Lass uns mal eine Schnecke angraben!“, hieß es in den 70er Jahren. Heute: „Isch schwöre, Alta.“
Was Lehrern einen kalten Schauer über den Rücken jagt, ist für viele Sprachforscher eine kreative Entwicklung der deutschen Sprache. „Kiezdeutsch“ bezeichnet die Germanistin Heike Wiese von der Uni Potsdam den Ethnolekt in Berlin. „Er wird von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gesprochen, die hier geboren sind, aber auch deutscher Herkunft sein können. Gemeinsam haben sie diese Sprache vor vielen Jahren entwickelt.“
Kiezdeutsch ist nicht abhängig von der Herkunft oder der Muttersprache, sondern vom Wohnort der Sprecher. Das weiß auch die 19-jährige Betül: „,Mies‘ ist derzeit das Wort in Kreuzberg.“ Es bedeutet so viel wie „abgefahren“ oder „das ist der Hammer“. Begriffe wie „cüs“ (türkisch für pfui) oder „Bombe“ hätten hingegen ausgedient. „Jede Zeit hat ihre Wörter. Manche kommen und gehen, andere halten sich“, sagt Renata, Betüls Freundin. Sie besuchen das Robert-Koch-Gymnasium in Kreuzberg. Ob sich eine Floskel halte, entscheide die Mehrheit der Sprecher. Zudem käme es darauf an, in welchem Kiez man sich aufhalte. „In Wilmersdorf sagen sie andere Sachen als hier bei uns“, sagt Renata, „da bedeutet das Wort ‚gebügelt‘ übertrieben.“ In Kreuzberg würde das niemand benutzen.
Begrüßungen, Verabschiedungen, Schimpfwörter, Drohformeln (isch mach disch Messer) oder Flirtsprüche: Im Ehtnolekt schrumpft der deutsche Gesamtwortschatz kontinuierlich zusammen. „Wenn wir so miteinander sprechen, denkt keiner darüber nach, ob es falsches oder richtiges Deutsch ist“, sagt Renata. Zudem sei es bequemer, nicht immer ganze Sätze sagen zu müssen, ergänzt ihre Freundin Nilüfer. „Wir verstehen uns mit wenigen Worten.“
Einfache Satzkonstruktionen werden aus Subjekt, Prädikat und Objekt gebildet, zudem werden türkische, arabische oder serbo-kroatische Lehnwörter eingebunden. Einschübe wie „Lan“ oder „Moruk“ sind ebenso geläufig wie die deutsche Entsprechung dieser Vokabeln: „Alta“. Zum Sprachgebrauch gehören Ausrufe wie „isch schwöre“ oder „weissu“ (für „weißt du“). Geläufig sind auch Worte wie „wallah“ (ist doch so), „yalla“ (auf geht’s) oder „mussu“ (von: du musst). Wichtig dabei ist die spezielle Stakkato-Intonation. Und typisch ist auch die sogenannte Koronalisierung des Ich-Lauts: Isch, misch, disch – was klingt wie ein Sprachfehler, ist tatsächlich beabsichtigt. Ebenso das Weglassen von Artikeln und Präpositionen. Deshalb lautet ein mustergültiger Satz auf Ethnolekt: „Isch gehe gleisch Bibliothek.“
„Bei Ethnolekten handelt es sich um eine dauerhafte Veränderung der Sprache, weil die Jugendlichen sie verinnerlichen“, sagt Germanistin Heike Wiese. Es sei weder als „falsches Deutsch“ noch als eine „Ausländersprache“ zu verstehen. Außerdem unterscheide es sich in seiner Grammatik vom „gebrochenen Deutsch“ der früheren Gastarbeitergenerationen. Dass die Sprechart vielen beim Zuhören aufstoße, liege an der Einstellung gegenüber Dialekten: Sie werden als falsches Deutsch empfunden, weil sie nicht dem offiziellen Standarddeutsch entsprechen. „Im Niedersächsischen oder Hessischen sind aber Aussagen wie ‚meiner Mutter ihr Hund‘ auch gängig“, sagt die Sprachforscherin.
Für Wiese ist Kiezdeutsch Zeichen eines Zugehörigkeitsgefühl. „Es signalisiert, dass sich die Jugendlichen nahe sind und sich nicht erst integrieren müssen.“ Oft wird ihnen aber unterstellt, dass sie nicht in der Lage sind, sich „vernünftig“ auszudrücken. Jugendforscher Klaus Hurrelmann interpretiert das jedoch als bewusste Abgrenzung, die es zu respektieren gilt: „Was Jugendliche überhaupt nicht mögen: Wenn Eltern und Lehrer ihren Jargon zu kopieren versuchen.“
Samira hat mehrere Sprachcodes und weiß, wie sie sich mit wem unterhalten muss: „Ich würde so nie mit einem Lehrer oder meinen Eltern sprechen.“ In der Clique hingegen sei Hochdeutsch verpönt. Aus gutem Grund: Wer es spricht, gerät schnell in den Verdacht, arrogant zu sein.
Hadija Haruna
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