Die Philharmoniker spielen John Adams: Das Höllenfeuer der Gegenwart
Es grollt, wühlt und raunt: Die Philharmoniker spielen John Adams’ gewaltiges Oratorium „Gospel According to the Other Mary“.
Manchmal geht alles zu schnell. Gerade noch Push-Nachrichten von Trumps Mauerbau, seiner Mexiko-Brüskierung und den Pro-Folter-Aussagen gelesen, schon findet man sich in einem amerikanischen Frauengefängnis wieder, in dem die Insassen gequält werden, an Suizid denken und die sozialen Spannungen überhand nehmen. Gewalt, Protest, Armut, Arbeitskämpfe: Gott ist tot und die Welt in Aufruhr. Wohl kaum ein Gegenwartskomponist weiß das so sinnfällig in Musik umzusetzen wie John Adams. Das Tremolo als Soundeffekt unserer Tage. Weil wir in einem Oratorium sind, einer Passionsoper, „The Gospel According to the Other Mary“, beruhigt es sich manchmal, es kennt auch die Gnade.
Minimal Music mag man das kaum mehr nennen, so wie der Librettist Peter Sellars Alt- und Neutestamentarisches mit Texten von Primo Levi, der christlichen Sozialistin Dorothy Day oder Hildegard von Bingen versetzt und der US-Komponist die Collage an Bachs Passionen rückkoppelt, um sie mit maximaler Ausdruckskraft anzureichern. Wütende Repetitionen, wild gezackte Melodiefetzen, energisch übergroße Intervallschritte, jähe Stimmungsumschwünge, markerschütternde Erregungen: Es grollt, wühlt, raunt in der Philharmonie bei diesem gewaltigen Werk über die letzten Tage vor Jesus’ Kreuzestod, mit Maria Magdalena, Martha und Lazarus als Protagonisten. Noch die staunend beschwörenden Soli des ums Begreifen ringenden Lazarus (Peter Hoare) sind mit komplexen Klangmischungen unterlegt, mal quirlig, mal meditativ.
Das Stück besitzt eine brisante Aktualität
Auch wenn es den Kitsch streift, Illustratives (Erdbeben!) und Exotik (Becken, Gongs, Cimbalom, E-Gitarre) nicht scheut, man hört es gerade gern. Adams beharrt auf einer polyglotten, multiplen Klangwelt, die Grenzen überschreitet, geografisch, religiös, kulturell. Erst recht, wenn die Frauen des Berliner Rundfunkchors zu den Versen der mexikanischen (!) Dichterin Rosario Castellanos einen innigen, volkstümlichen Ton anschlagen und mitten in diesen kranken Zeiten vom Tag der Liebe singen. Und wenn die Mezzosopranistinnen Kelley O’Connor und Tamara Mumford von Sinn und Sinnlichkeit künden, mit natürlicher Autorität das Recht auf Einmischung einklagen, für die Versehrten, die Bedrängten, die Todeskandidaten.
Die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle, der Rundfunkchor, die betörend souverän die Register wechselnden Solistinnen, die Countertenöre Daniel Bubeck, Brian Cummings, Nathan Medley mit ihren Seraphim-Trios voller luzider Sekundreibungen – sie machen großes Kino aus Adams’ Oratorium, das 2012 in Los Angeles uraufgeführt und 2013 dort von Sellars auch szenisch eingerichtet wurde.
Inzwischen tourt „The Gospel...“ um die Welt, ab März wird die Pessach-Oper in Bonn zu sehen sein. Die Aktualität, die ihr zuwächst, macht sie umso brisanter, allen Knalleffekten zum Trotz. Es sind vor allem die Frauen, die mit Macht ihre Stimmen erheben, im Höllenfeuer der Gegenwart.