Hildegard von Bingen: Schwester im Geiste
Im Frühjahr erst hat Benedikt XVI. Hildegard von Bingen zur Heiligen der ganzen Kirche erklärt. Jetzt hat er sie auch zur Kirchenlehrerin ernannt. Wer war die mittelalterliche Ordensfrau?
Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen (1098–1179) hat Karriere gemacht. Am Sonntag erhob sie Papst Benedikt XVI. als erste Deutsche und als vierte Frau überhaupt zu einer „Kirchenlehrerin“. Hildegard sei eine Frau von „lebhafter Intelligenz, tiefer Sensibilität und anerkannter geistlicher Autorität“ gewesen, sagte Benedikt in einer Messe auf dem Petersplatz in Rom.
Bis zu dieser Ehre war es freilich auch für Hildegard von Bingen ein weiter, fast 800 Jahre dauernder Weg. Schon zu Lebzeiten war die zunächst in einem Kloster auf dem Disibodenberg, am Zusammenfluss von Nahe und Glan lebende Ordensfrau für ihre Visionen berühmt geworden. „Ich sehe nicht mit den Augen des Körpers, sondern mir erscheint alles in mystischem Geist“, schrieb sie in einem Brief an den Zisterzienserabt Bernhard von Clairveaux. „Ich erkenne die tiefe Bedeutung dessen, was im Psalter, in den Evangelien und anderen Büchern steht, die mir in der Vision gezeigt wurden. Dies brennt wie eine Flamme in meiner Brust und in meiner Seele und lehrt mich, den Text tiefgründig zu verstehen.“
Ihr bekanntestes Werk, das „Liber Scivias Domini“, enthält 26 Visionen über die Heilsgeschichte, die Geschichte der Welt von der Schöpfung bis zum Ende der Zeit. Alles Irdische ist für sie das Zeichen einer übernatürlichen Wirklichkeit, die ganze Schöpfung eine „Symphonie des Heiligen Geistes“. In weiteren Schriften widmete sie sich dem menschlichen Dasein zwischen Tugend und Lastern und der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott. Doch auch eine Sammlung von geistlichen Liedern, sowie Abhandlungen zur Heilkraft der Natur sind bis heute überliefert – und unter Heilpraktikern und Esoterikern fast noch stärker verbreitet als in der katholischen Kirche.
Als Predigerin reiste Hildegard von Bingen durch das ganze Rheintal. Zwei eigene Klöster gründete sie, auf dem Rupertsberg bei Bingen und in Eibingen bei Rüdesheim. Doch nach ihrem Tod scheiterten alle Versuche eines schnellen Heiligsprechungsverfahrens. Ein 1228 begonnener Kanonisationsprozess versandete irgendwo zwischen den Nonnen ihres Klosters, dem Erzbischof von Mainz und der römischen Kurie. Hildegard wurde lokal als Heilige verehrt. Doch erst seit 1940 durfte ihr Gedenktag offiziell in allen deutschen Diözesen begangen werden, und erst am 10. Mai 2012 wurde sie von Benedikt XVI. offiziell zur Heiligen der ganzen Kirche erklärt. Was auch mit einer persönlichen Verehrung der Ordensfrau durch den früheren Kurienkardinal Joseph Ratzinger zu tun haben dürfte. Schon 2010 nannte er Hildegard eine „große „Prophetin“ und würdigte ihre „geistliche Weisheit und Heiligkeit“.
Benedikt sagte: „Mit ihrer Liebe für alles Geschaffene, ihrer Liebe zur Medizin, zur Poesie und zur Musik, und vor allem mit ihrer Liebe zu Christus und zur Kirche, besonders zur leidenden Kirche ihrer Zeit, die geschlagen war durch die Sünden der Priester und Laien, wuchs sie in die Liebe zur Kirche als Leib Christi hinein.“ Doch Benedikt XVI. erinnerte damals auch an Hildegards Äußerungen über die Katharer, eine mittelalterliche Sekte, die sich für eine radikale Kirchenreform aussprach: „Sie warf dieser Gruppe vor, die Natur der Kirche selbst verändern zu wollen, und erinnerte daran, dass eine wahre Erneuerung der kirchlichen Gemeinschaft nicht aus der Änderung von Strukturen erwachsen könne, sondern nur aus einem ernsthaften Geist der Buße und einem mühevollen Weg der Umkehr.“ Eine Aussage, die durchaus Parallelen zulässt zu den Priesterinitiativen und Laienbewegungen in der katholischen Kirche der Gegenwart und auch der Erhebung der mittelalterlichen Mystikerin zur Kirchenlehrerin Aktualität verleiht.
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