Interview mit Heinz Bude über die 68er: Das große Nein
Sommer der Befreiung: Der Soziologe Heinz Bude über 1968, Gewalt als Lebenserfahrung und rechte Renegaten.
Herr Bude, angenommen, Rudi Dutschke wäre nicht Studentenführer geworden, sondern Sportreporter, es hätte kein Attentat auf ihn gegeben, keine Osterunruhen, 1968 wäre nicht das Jahr eskalierender Proteste gewesen. Würde Deutschland dann heute grundsätzlich anders aussehen?
Wahrscheinlich nicht. Die evolutive Bedeutung von 1968 wird überschätzt. Ich glaube nicht, dass wir ohne Dutschke weniger freie Sitten hätten. Die Sex-Frage war schon vor 1968 gestellt worden, denken Sie an Oswalt Kolle, an Hildegard Knef, den ganzen lakonischen Sex der Flakhelfergeneration. 1968 war auch nicht das Jahr, das die Demokratie befestigt hat. Die Demokratie als Verfahrensdemokratie nach westlich-angelsächsischem Vorbild ist nicht das Werk dieser Generation, da ist Horst Ehmke wichtiger als Rudi Dutschke. Und über „Unser Auschwitz“ hat Martin Walser 1965 im „Kursbuch“ geschrieben. Die Republik würde heute nicht anders aussehen, aber vielleicht hätten wir Spielführer wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer nicht in der Politik gehabt.
Weil sie von den Kämpfen der 68er profitierten?
Profitiert hat eigentlich nur Schröder, der die Chance eines zweiten Bildungswegs genutzt hat. Fischer nicht, der hat nicht mal Abitur. Aber ’68 hat Leute, die bereit waren, das Ganze aufs Spiel zu setzen, nach vorn gebracht. ’68 war eine generationsspezifische Einübung ins Neinsagen. Nicht da und dort etwas anders machen, sondern alles infrage stellen. Das wäre vor ’68 in der Bundesrepublik nicht denkbar gewesen, und auch nicht in der DDR.
Haben die 68er also politisch mehr erreicht als kulturell?
Politisch erreicht haben sie, dass seit ’68 das schwierige Thema der politischen Leidenschaften auf der Tagesordnung steht. Vor ’68 gab es ein Leidenschaftsverbot als Zivilisationsnotwendigkeit. In der Nachkriegsgesellschaft lautete die Parole: Wir müssen zur Ruhe kommen, mit partialen Identifikationen versuchen, eine halbwegs funktionierende Demokratie aufzubauen, eine Demokratie ohne Demokraten hinzukriegen. Die 68er waren eine erwartete Generation, in allen westlichen Gesellschaften. Sie waren am Krieg und am Völkermord nicht aktiv beteiligt und sollten einen frischen Wind in die Gesellschaft bringen. Völlig überrascht war das Publikum allerdings davon, dass diese jungen Leute auf einmal Politik in Form einer prinzipiellen ideologischen Auseinandersetzung machen wollten.
Und sie trugen die Politik wieder auf die Straße.
Das war die Ansage: Politik findet nicht bloß im Wahlakt statt, es gibt auch ein politisches Engagement jenseits der dafür vorgesehenen Verfahren. Der Gedanke einer außerparlamentarischen Opposition war irritierend. Jüdische Remigranten wie Ernst Fraenkel oder Richard Löwenthal sahen in den Aktionen von 1968 die Wiederkehr der SA-Rollkommandos. Theodor W. Adorno wurde 1968 in Frankfurt am Main bei seiner letzten Vorlesung von barbusig demonstrierenden Studierenden gestört.
Vor 20 Jahren haben Sie in Ihrer Habilitationsschrift die 68er als narzisstische Besserwisser kritisiert. Inzwischen ist Ihr Urteil versöhnlicher. Warum?
Mein Buch ist ein Remix, ich habe die alten Gespräche noch mal aus dem Keller geholt, mich den Gesprächspartnern erneut gestellt, diesmal unter der Fragestellung, wie ich mich damals als Interviewer verhalten habe. Dabei bin ich ganz anders in die Gespräche reingezogen worden. 1968 war ich 14 Jahre. Ich lernte die 68er in Form von Referendaren kennen, die tatsächlich Cordhosen trugen, und von Referendarinnen, die wie May Spills aus „Zur Sache Schätzchen“ aussahen.
Wir fanden schnell heraus, man muss in einem Aufsatz nur „Gesellschaft“ sagen, dann war das schon die halbe Miete. Wir lehnten uns zurück und fragten uns, was die uns da eigentlich erzählen wollten. Jetzt bin ich Mitte sechzig und frage nach Lebensfonds der heute Siebzig- bis Achtzigjährigen, denen die Altersgenossen links und rechts wegsterben: Was für Haltungen sind aus dem Erleben einer apokalyptischen Kriegskindheit hervorgegangen? Meine Antwort lautet: die Bereitschaft und der Mut, alles infrage zu stellen.
1968 waren Sie in Wuppertal bei Ihrer ersten Demo. Es ging um den Einmarsch der Sowjets in Prag. War das für Sie ein Moment der Euphorie, da mitzulaufen?
Nicht Euphorie, sondern das eigenartige Gefühl, mit wildfremden Menschen durch die Straße zu laufen und vom Fenster und vom Bürgersteig angeschaut und taxiert zu werden. Ich wusste selbst nicht, was ich zum Ausdruck bringen wollte. Ich war nur für den Frühling von Prag und gegen den Frost der Panzer.
"Der Terror der RAF war ein genuiner Ausdruck von 1968"
Einer Ihrer Gesprächspartner, der Merve-Verleger Peter Gente, sagte, dass 1968 eigentlich nur einen Sommer dauerte. Musste die Bewegung scheitern, weil sie zu heterogen und zersplittert war?
Die siebziger Jahre waren eine gruselige Zeit. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings war, da hat Gente recht, 1968 vorbei. Es ging alles wieder nach dem alten Trott weiter, die Bewegung zersplitterte sich in internen Abgrenzungen und Kämpfen. Spartakisten gegen Maoisten, Spontis gegen Reformisten und Trotzkisten gegen alle. Als ich 1972 anfing zu studieren, sah ich mich mit dieser irren Welt der Parteiaufbauorganisationen konfrontiert. Als Studienanfänger in Tübingen wurde ich schon bei der Studienberatung durch die studentischen Fachschaften von der einen und dann von der anderen Gruppe umworben. Dieses Nachspiel des Befreiungsversuchs fand im Deutschen Herbst von 1977 sein Ende. Der große Schrecken der 68er Generation war die Erkenntnis, dass der Terror der Roten Armee Fraktion ein genuiner Ausdruck von 1968 war.
Welcher Gruppe schlossen Sie sich an?
Ich habe mir ziemlich schnell die FDP der Linken ausgesucht, die Trotzkisten. Als Anhänger der permanenten Revolution konnte ich mich über die kleinbürgerliche Eifrigkeit der moskautreuen Spartakus-Leute und die völkische Attitüde der Maoisten erhaben fühlen.
Wann merkten Sie, dass Sie auf dem Holzweg waren?
Als ich 1974 von Tübingen an die FU wechselte. Ich besuchte beim „Projekt Klassenanalyse“, wie das damals hieß, einen „Kapital“-Kurs und traf auf Leute, die das erste Kapitel über die Wertform so lasen, als würde da die Blaupause zum Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaft und das ganzen Lebens drinstecken. Dieser Begriffsrealismus hatte etwas Enges, Angestrengtes und Weltverneinendes.
Die Parole der 68er war Befreiung. Was war wichtiger, sich selber oder die Welt zu befreien?
Das Interessante an ’68 ist die Verbindung zwischen beidem. Einerseits die Entdeckung von Politik in der ersten Person und die Erkenntnis: Woran ich leide, ist kein Zufall, es hat mit den Verhältnissen zu tun, in denen ich lebe. Und andererseits der Gedanke, dass der Verblendungszusammenhang, in den wir alle hineingestellt sind, auch der Ort ist, in dem wir uns befreien können. Diese Interpretation macht den Unterschied zu einer von Linken wie Luc Boltanski und Eve Chiapello kommenden Deutung: Der Hedonismus von ’68, der sich im Pop und im Konsum zeige, sei der Beginn des Neoliberalismus gewesen. Das glaube ich nicht, ich glaube 1968 war noch einmal und vielleicht vorläufig zum letzten Mal das Durchdenken und Durchleben des Projekts der großen Befreiung.
Das Verhältnis der 68er zur Gewalt war ambivalent. Steckte im Anspruch einer ganz neuen Form von Politik ein Kern von Totalitarismus?
Die 68er haben früh erlebt, dass Gesellschaft immer auch ein Gewaltzusammenhang ist. Wenn man mit fünf, sechs Jahren eine Welt durch Bomben zusammenbrechen sieht, liegt die Annahme nah, dass auch diese wieder zerstört werden kann. Gewalt ist im Leben der Nachkriegsgeborenen nicht automatisch drin, das ist ein Begriff, mit dem man sich Dinge erklärt, von denen man hört, aber die man nicht kennt. Für die 68er gehört sie zur Grammatik ihres Daseins.
Einige Protagonisten der 68er wie Horst Mahler oder Bernd Rabehl sind inzwischen rechtsextrem. Hat die Radikalität nur die Richtung gewechselt?
Ich glaube schon, dass das die Inversion eines Ursprungs ist. Das narzisstische Bestehen auf der leeren Geste der Verneinung. Man ist gegen die kapitalistische Gesellschaft und für das rebellische Volk. Allerdings ist der Volksbegriff im Denken von ’68 ein eigenes Kapitel. Besonders bei jenen, denen der Pop fehlt und die deshalb nur die Kinder von Marx und nicht auch die von Coca-Cola sind.
Sie kommen aus einer Handwerkerfamilie und stiegen im Zuge der Bildungsreformen zum Hochschulprofessor auf. Haben Sie Ihre Karriere den 68ern zu verdanken?
Nein. Ich habe von Georg Picht und Hellmut Becker profitiert, die sich schon in den frühen sechziger Jahren angesichts einer von ihnen diagnostizierten „Bildungskatastrophe“ um eine große Koalition der Bildungsreform bemüht haben. Ich bin ein Kind der gymnasialen Oberstufe und der Reformuniversitäten. Und trotz der forcierten Bildungsexpansion mit lediglich zwölf Prozent eines Jahrgangs, die Abitur machten. Aber bei den 68ern muss ich mich nicht bedanken.