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 Demonstranten des „Mouvement des Gilets jaunes“ am Samstag vor dem Arc de Triomphe.
© dpa

Thomas Ostermeier über die Gelbwesten: Das Gefühl, nicht dazuzugehören

Die Wut ist ein Ausdruck des Elends: ein Gespräch mit Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier über den Aufruhr in Frankreich und das Versagen der Linken.

Herr Ostermeier, Sie haben die Proteste der Gelbwesten in Paris miterlebt. Woher kommt die Wut, die sich da ausdrückt?

Die Situation in Frankreich ist ähnlich wie in Deutschland. Es gibt nur sehr gering wachsende Löhne und eine Umverteilung von unten nach oben, eine Situation, in der viele der so genannten Working Poor große Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen. Bei den Arbeitslosen ist es genauso oder noch schlimmer. In vielen Regionen der Provinz macht sich Verelendung breit. Die Infrastruktur bricht ein oder wird abgebaut. Die Leute sind auf das Auto angewiesen ist, um überhaupt zur Arbeit zu kommen oder ins nächste Dorf zum Arzt.

So fingen die Demonstrationen an: mit Protesten gegen die Erhöhung der Steuern für Benzin und Diesel.

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hinzu kommt, dass Emmanuel Macron als Präsident der Reichen wahrgenommen wird. Er hat in den letzten sechs Monaten viele unglückliche, provokante Aussagen gemacht. Zum Beispiel in der Affäre Benalla, als herauskam, dass einer seiner persönlichen Bodyguards, der nicht beim Staat angestellt war, sich als Polizist verkleidete und auf Demonstranten einprügelte, reagierte Marcron mit den Worten: „Natürlich bin ich verantwortlich dafür, aber wer kann kann mich dafür rankriegen?“. Es wird kolportiert, dass er sich gerne „Jupiter“ nennen lässt von seinen engsten Mitarbeitern. Diese Mischung von Verelendung und provokanten Äußerungen führte zur großen Wut.

Ist es ein Aufstand, eine Revolte, oder, wie bereits befürchtet wird, ein kommender Bürgerkrieg?

Das, was am Samstag passiert ist, kann man auf keinen Fall mit einem Bürgerkrieg vergleichen. Es waren deutlich weniger Demonstranten als in den Wochen zuvor. Und es waren 90 000 Polizisten und Sicherheitskräfte in ganz Frankreich unterwegs. Innenminister Édouard Philippe hatte am Donnerstag gesagt: „Es wird Tote geben.“ Eigentlich hätte er das Gegenteil sagen müssen, dass er alles tue, dass es keine Toten gibt. Seine Aussage führte dazu, dass viele, die eher aus einem, ich sage mal, normalen Haushalt kommen und Familie haben, nicht auf die Straße gegangen sind. Für mich sind die Gelbwesten eine soziale oder, marxistisch gesprochen, eine materialistische Bewegung. Sie stellt ganz klare materialistische Forderungen.

Der Schriftsteller Édouard Louis, der aus der Arbeiterklasse stammt, sagt: „Wir zählen nicht, niemand spricht mit uns.“ Wollen die Demonstranten sichtbar werden?

Die Nicht-Sichtbarkeit ist ein Teil des Unmuts. Ein anderer Punkt ist blanke soziale Not. Louis hat das in seinen Romanen „Das Ende von Eddy“ und „Im Herzen der Gewalt“ beschrieben. Seine Familie ist nach dem 15. eines Monats immer angeln gegangen, damit sie Proteine auf dem Teller haben. Das Geld hat einfach nicht gereicht. Heute kann er keinen Fisch mehr essen, wenn er ins Restaurant geht. Er hat genug Fisch für ein ganzes Leben gegessen. In vielen Kreisen in Deutschland und Frankreich kann man sich einfach nicht vorstellen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die ab Mitte des Monats nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.

Thomas Ostermeier mit dem Schriftsteller Édouard Louis.
Thomas Ostermeier mit dem Schriftsteller Édouard Louis.
© Thilo Rückeis

Aber reicht ein Gefühl aus, um zu solch einem Massenereignis zu führen?

Es geht um die Frage der Repräsentation. Diese Schicht fühlt sich in der parlamentarischen Demokratie nicht mehr repräsentiert. Sie hat keine Anführer mehr, die sie vertritt, und auch keine Partei. Die Mehrzahl der Politiker, die mit Macrons „La République en Marche“-Bewegung ins Parlament kamen, haben keinen Hintergrund aus der Arbeiterklasse. Bis hinein in die linken Parteien stammen die meisten Politiker aus akademischen, bürgerlichen Verhältnissen. Ähnlich sieht es auch bei den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Deutschland aus. Nur wenige kommen aus dem Milieu der so genannten armen Leute. Martin Schulz, Kurt Beck oder Gerhard Schröder sind Ausnahmen.

Andrea Nahles ist die Tochter eines Maurermeisters aus der Vulkaneifel.

Sie stammt aus einfachen Verhältnissen, das stimmt. Aber in dem Moment, wo jemand die akademischen Weihen bekommt und sich eine andere Sprache angeeignet hat, können sich viele Menschen aus dem Herkunftsmilieu nicht mehr mit diesen Politikern identifizieren. Was ich mit „Repräsentationskrise“ meine, hat noch einen anderen Aspekt: Wo finden die Diskurse statt? In den Nachmittagstalkshows und Trash-TV-Dokuserien sprechen Angehörige der Arbeiterklasse über ihre Alkoholkrankheit oder das Übergewicht. Ab 22 Uhr 30 diskutieren andere über sie. Vielleicht werden sie als Gast dazu geladen, wenn die Experten reden, und dürfen vom realen Elend erzählen. Es gibt ein Missverhältnis zwischen der Repräsentanz und dem Anteil der Menschen aus dieser Gruppe in der Bevölkerung. Das sind mindestens zwanzig bis dreißig Prozent in Deutschland und Frankreich.

Im französischen Fernsehen sind momentan viele Menschen in gelben Westen zu sehen, die über ihr Leben erzählen. Gut so?

Das ist ein Bruch. Vor allem stehen wir erst einmal ratlos da und fragen: Wer sind die überhaupt, was kommt da jetzt über uns? Wenn da Leute mit Gewerkschaftsfahnen vorneweg gehen würden oder mit anderen Emblemen, dann könnten wir sie einordnen. Man muss extrem vorsichtig sein mit dem, was am Anfang gemacht wurde, gerade von deutschen Medien: Die Demonstranten unter den Generalverdacht zu stellen, das seien alles Anhänger von Marine Le Pen. Das trifft einfach nicht zu. Es gibt People of Color aus den Banlieus, die schon länger gegen Polizeigewalt demonstrieren und sich nun den Gelben Westen angeschlossen haben. Es ist keine in großen Teilen rassistische Bewegung. Natürlich gib es Anteile von Leuten, die Le Pens Rassemblement National wählen. Aber das sind, glaube ich, vorwiegend Leute, die ihr aus sozialer Unzufriedenheit die Stimme gegeben haben. Bei den Demonstrationen kam es auch zu Gewalt, oft aus einer Art schwarzen Block heraus. Aber es gab, so ist mein Eindruck, auch viele Familienväter und Mütter, die zum ersten Mal auf der Straße gegangen sind und dann mit Polizeigewalt konfrontiert wurden.

In Deutschland zeigen sich Wut und Angst auch in den Pegida-Demonstrationen. Sind das auch Leute, die sich von der Linken verraten fühlen?

Didier Eribon hat dieses Phänomen in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ ausführlich beschrieben: Wie durch die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Europa in den letzten dreißig Jahren viele Leute sich immer weniger von den linken Parteien vertreten fühlten. Spätestens dann, als die Parteien neoliberale Reformen eingeführt haben. Wobei man mit dem Wort Reformen vorsichtig sein muss. Es stammt aus der Sozialgesetzgebung Ende des 19. Jahrhunderts. Damals waren Reformen Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Werktätigen. Heute wird der Begriff zur Verschlechterung der Situation der Werktätigen und Arbeitslosen gebraucht. Das haben viele den Politikern nicht verziehen. Wenn das über Jahre geht, sich das Gefühl festsetzt, nicht mehr zurechtzukommen, wird es gefährlich.

Aber man muss sich doch nicht nach rechts radikalisieren, wenn man sich um seine Chancen gebracht fühlt. Oder?

Es dauert viele Jahre, aber dann kann es dazu führen, dass viele aus dieser einstigen Arbeiterschaft zu den Rechten überlaufen. Eribon hat das anhand seiner Eltern geschildert. Bei Pegida müsste man allerdings noch ganz viele andere Faktoren erwähnen. Es ist ein hauptsächlich in Dresden auftretendes Phänomen, und darüber hinaus ein Phänomen vor allem in Ostdeutschland. Ich glaube, dort ist die Situation und das Gefühl, sich durch die Wende verraten zu fühlen, die zum Abbau der Industrie führte, noch mal ganz anders als in Frankreich.

Sie haben an der Schaubühne gerade Horvaths Stück „Italienische Nacht“ herausgebracht, das kurz vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten spielt. Sehen Sie Parallelen zwischen damals und heute?

Wenn man so eine Aufführung macht, ist sie dafür da, auf mögliche Parallelen hinzuweisen, aber auch ganz klar die Unterschiede zu zeigen. Was ich bei der Aufführung viel wichtiger finde als den zeitlichen Rahmen, ist, dass sie in der Provinz spielt, unter den einfachen Menschen, so genannten Abgehängten. Es wird eine Welt repräsentiert, die nicht die bürgerliche Mittelschicht spiegelt. Das ist etwas Besonderes im Theater.

Ist die „Aufstehen“-Bewegung für Sie ein linkes Hoffnungszeichen?

Ein ganz großes Hoffnungszeichen für mich war die „Unteilbar“-Demonstration. 250.000 Menschen protestierten auf den Straßen von Berlin gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Frage zu „Aufstehen“ lässt sich dadurch beantworten, dass Sarah Wagenknecht explizit dazu aufgerufen hatte, nicht auf diese Demo zu gehen.

Das Gespräch führte Christian Schröder

Thomas Ostermeier ist gerade erst aus Paris zurückgekehrt, wo er am Mittwoch für seine Regiearbeit mit dem Kythera-Kultur-Preis ausgezeichnet worden ist. Der Intendant der Berliner Schaubühne, 50, ist oft in Frankreich, viele seiner Inszenierungen waren in Paris oder beim Festival von Avignon zu sehen. Die Protestaktionen der Gelbwesten, die seit November Frankreich erschüttern, hat er von Anfang an verfolgt. Die Laudatio hielt Didier Eribon, der in seinem autobiografischen Roman „Rückkehr nach Reims“ aus dem Milieu nordfranzösischer Arbeiter erzählt, dem er entstammt. Viele dieser Leute sind von der Politik enttäuscht und haben sich dem „Mouvement des Gilets jaunes“ angeschlossen.

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