Digitalisierung des Filmerbes: Das Gedächtnis der Bilder
Jetzt machen auch die Länder mit: Die Rettung des Filmerbes kommt in Deutschland endlich voran. Es wurde auch Zeit, andere europäische Kulturnationen sind schon viel weiter.
Filmerbe ist ein schwammiger Begriff. Schon über das Konzept herrscht unter Expertinnen und Experten Uneinigkeit: Ist das filmische Erbe gleichbedeutend mit einem „Best of“ der nationalen Kinematografie, also den Meisterwerken der Filmgeschichte? Mit der kollektiven Erinnerung an Filme, Regisseurinnen und Produzenten, die angesichts des technologischen Wandels dem Vergessen anheimzufallen drohen? Oder ist die physische Substanz gemeint, die in den Archiven in Form von Kameranegativen und Filmkopien lagert?
Diese Erwägungen haben in den vergangenen Jahren sehr viele Menschen beschäftigt, die mit dem praktischen Problem betraut sind, den Übergang der analogen Filmgeschichte in die digitale Ära zu bewältigen. Die Diskussion dreht sich dabei wesentlich um die Frage, welche kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung eine nationale Filmgeschichte ohne Öffentlichkeit überhaupt noch hat. Denn nur eine relativ geringe Zahl von deutschen Filmen ist heute als DVD oder BluRay erhältlich – oder auf einem der zahlreichen Youtube-Kanäle verfügbar, die Rechteinhaber oder Fans betreiben, Letztere oft im Fall von „verwaisten“ Werken. Ein Großteil der deutschen Filmgeschichte – kommerzielle Produktionen, aber auch weniger bekannte Dokumentar-, Werbe- und Industriefilme – liegen im Bundesfilmarchiv oder befinden sich im Bestand der Deutschen Kinemathek.
Doch Archive sind exklusive Orte, dem Zugriff der Öffentlichkeit weitgehend entzogen. Darum ist „Digitalisierung“ seit einigen Jahren das Zauberwort, mit dem die Politik dem „Verschwinden“ des kulturellen Erbes entgegenzuwirken versucht. Es geht um Sichtbarkeit: Was öffentlich verfügbar ist, bleibt gegenwärtig: Das gilt für historische Dokumente genauso wie für audiovisuelle Medien.
Ein Durchbruch in den zähen Verhandlungen
Es kam daher einer kleinen Sensation gleich, als im Juni eine scheinbar unspektakuläre Pressemitteilung aus dem Büro der Berliner Senatskanzlei verkündete, dass die Länder-Regierungschefs den Entwurf einer „Verwaltungsvereinbarung zur Digitalisierung des nationalen Filmerbes“ beschlossen haben. Es ist nicht weniger als ein Durchbruch in den zähen Verhandlungen zwischen Kulturstaatsministerin Monika Grütters (BKM), der Filmförderungsanstalt des Bundes (FFA) und den Vertretern der Länder.
Seit Jahren beklagen die Institutionen und Stiftungen, die sich um die Erhaltung des deutschen Filmerbes kümmern, über unzureichende Mittel. Zuletzt schüttete Grütters’ Behörde zwei Millionen Euro pro Jahr an die Bundeseinrichtungen Bundesfilmarchiv, die Deutsche Kinemathek und das Deutsche Filminstitut in Frankfurt sowie die Murnau Stiftung und die Defa-Stiftung aus. Hinzu kamen zwei Millionen Euro der Filmförderungsanstalt sowie regionale Förderungen, etwa vom Medienboard Berlin-Brandenburg.
2018 haben BKM und FFA ihre Förderung erstmalig auf je 3,3 Millionen Euro erhöht. Mit dem Vertragswerk, das am 30. September beschlossen und am 1. Januar 2019 in Kraft treten wird, hätte die Planungsunsicherheit ein Ende: 100 Millionen Euro sollen die deutschen Filmerbe-Institutionen in den kommenden zehn Jahren erhalten, um ihre Bestände zu digitalisieren. Die Summe stammt aus einer Kostenschätzung, die die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers im Auftrag der FFA erstellt hatte.
Konservatorische, kuratorische und wirtschaftliche Kriterien
100 Millionen Euro auf zehn Jahre sind dennoch ein überschaubares Budget für eine komplette Filmgeschichte, deren Digitalisierung Grütters „eine Jahrhundertaufgabe“ nennt. Aber es verschafft den Institutionen Flexibilität. „Planungssicherheit sagt sich so leicht“, meint Rainer Rother, Direktor der Deutschen Kinemathek. „Doch für unsere Arbeit bedeutet sie, dass man über Jahre neue Perspektiven entwickeln kann und nicht je nach Finanzierungslage von Projekt zu Projekt springt. Es ermöglicht uns auch einen konzeptuellen Ansatz: Man kann etwa zu einem Jubiläum in 2022 gleich ein kleineres Paket mit Filmen restaurieren.“
Dass der Vereinbarung jahrelange Verhandlungen vorausgingen, lag vor allem an Abstimmungsproblemen zwischen drei Partnern mit letztlich sehr unterschiedlichen Zielen. Die oberste Kulturbehörde des Bundes legt bei ihrer Mittelvergabe kulturelle Kriterien an, die FFA fördert nach wirtschaftlichen Aspekten und die Länder... tja, die haben zunächst Standortinteressen. Weswegen sich einige lange sträubten, sich an der Digitalisierungsinitiative zu beteiligen. Für Grütters stand dagegen nie zur Debatte, dass „die Länder eine originäre Verantwortung für die Sicherung des Filmerbes haben“, wie es aus ihrem Hause heißt. Die Sicherung des Filmerbes ist ein föderaler Auftrag, er richte sich nicht nach den medienpolitischen Interessen der Länder, erklärt auch Dietrich Reupke, Referatsleiter für Film und Medien in der Berliner Senatskanzlei. Er wird die Koordination der Filmreferentinnen und -referenten der Länder mit der FFA übernehmen.
Sollte am 30. September also die Digitalisierungsinitiative beschlossen werden, zahlen Bund, Länder und Filmförderanstalt als Interessensvertretung der Branche ab 2019 jährlich je ein Drittel des Budgets in einen Förderfonds ein, den die FFA verwaltet. Und zwar nach einem Drei-Säulen-Modell: Die Mittelvergabe erfolgt zu gleichen Teilen nach konservatorischen, kuratorischen und wirtschaftlichen Kriterien. Mit dieser Mischung will man dem veralteten Gedanken eines „Filmkanons“ entgegenwirken.
Die Initiative ist von Bund, Ländern und Branche ist überfällig
Wobei das eine das andere nicht ausschließt: Die restaurierte Fassung von Paul Wegeners Stummfilm-Klassiker „Der Golem – Wie er in die Welt kam“ zum Beispiel, die im September in Venedig Premiere feiert, ist unter kuratorischen wie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll. Die bei der Restaurierung federführende Murnau Stiftung hat als Rechteinhaberin die Möglichkeit, den Film im Kino, auf Video und im Fernsehen auszuwerten. Aber auch die Sicherung von akut gefährdeten Filmtiteln wird gefördert, dann, wenn die Materiallage kritisch aussieht, etwa aufgrund fortgeschrittenen chemischen Verfalls. Ein Drittel der Gelder soll für solche Notfälle bereitgestellt werden.
Die konzertierte Initiative von Bund, Ländern und Branche ist überfällig. Endlich schließt Deutschland zu anderen europäischen Ländern auf, die ihr Filmerbe entweder längst gesichert haben oder damit auf gutem Wege sind. Frankreich und Schweden zum Beispiel, aber auch kleinere Länder wie die Niederlande und Ungarn. In den notorisch unterfinanzierten deutschen Archiven gilt Frankreich mit einem Förderpaket von 400 Millionen Euro immer noch als Paradies. Rainer Rother schränkt allerdings ein, dass Frankreich sich bei der Digitalisierung vor allem an den Klassikern orientiert. Die hiesigen Förderrichtlinien sind breiter ausgerichtet. „Ein langfristiges Konzept“, so Rother, „ermöglicht uns, den Kanon zu hinterfragen. Das Filmerbe ist kollektive Erinnerung, es entwickelt sich ständig weiter.“
Das Filmerbe ist noch lange nicht gesichert
Viele Fragen sind noch zu klären. Etwa, ob die Liste mit 500 filmhistorisch bedeutenden Titeln, die der Kinematheken-Verbund Jahr für Jahr aktualisiert, weiterhin als Referenz herangezogen wird. Soll ein Gremium oder sollen mehrere Gremien über die Mittelvergabe entscheiden? Die FFA will sich zu den Modalitäten im Detail noch nicht äußern. Eine institutionelle Digitalisierungsförderung ist jedenfalls nicht vorgesehen, die Einrichtungen müssen ihre Fördermittel weiterhin projektbezogen beantragen. Auch an der finanziellen Eigenbeteiligung von 20 Prozent ändert sich voraussichtlich nichts.
Die Digitalisierungsinitiative ist zweifellos ein wichtiges kulturpolitisches Projekt. Man sollte sich aber davor hüten, das Filmerbe damit schon als gesichert anzusehen. Die Archive dürfen in den kommenden zehn Jahren viel Geld in die Hand nehmen – dazu kommen die Produzenten als Rechteinhaber und private Stiftungen wie die Fassbinder Foundation oder die Wim Wenders Stiftung. Auch sie können Fördermittel beantragen.
100 Millionen Euro können nur ein Anfang sein
An der Unterfinanzierung der Archive selbst ändert sich jedoch nichts. Die Kinemathek etwa erhält jährlich 8,5 Millionen Euro vom BKM, von denen nach Abzug der Personalkosten sowie der horrenden Miete am Potsdamer Platz noch etwa 700 000 Euro für die inhaltliche Arbeit bleiben. Die Murnau Stiftung hingegen muss ihre laufenden Kosten mit den Erlösen aus ihren Lizenzrechten (u. a. die frühen Ufa-Filme) decken. Ab 2019 kann also mehr digitalisiert werden, doch strukturell bleibt vieles beim Alten. Für die Filmerbe-Institutionen sind die zehn Millionen Euro jährlich in erster Linie ein durchlaufender Posten.
Rainer Rother äußert allerdings die vorsichtige Hoffnung, dass die nächsten Jahre nur eine Testphase für die Verstetigung einer Förderung des Filmerbes sein werden. Langfristige Strategien sollten folgen, zehn Jahre und 100 Millionen Euro können nur ein Anfang sein. Zum Beispiel, um die wirtschaftliche Existenz der externen Dienstleister zu gewährleisten, der Firmen, die die Digitalisierungen im Auftrag der Archive durchführen.
Archive gehören heute zu den letzten Einrichtungen, die noch teure Filmscanner für Negative benötigen, nachdem die Industrie auf digital umgestiegen ist. Die Dienstleister sind mit ihrer technischen Expertise auf die Archive angewiesen – und umgekehrt. An dieser praktischen Herausforderung zeigt sich beispielhaft das prinzipielle Problem des Konzepts „Filmerbe“, wie es aktuell von der Politik verstanden wird: Die technischen Aspekte des Mediums Film werden ausgeblendet. Denn die Rettung der Filmgeschichte ist nicht nur eine Frage des Trägermediums: analoge Kopie oder Digital Cinema Package (DCP). Unter dem Begriff Filmerbe muss, besser früher als später, endlich auch die 120-jährige Technikgeschichte des Kinos – Projektoren, Kopierwerke etc. – berücksichtigt werden.