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An der Love Parade 1996 in Berlin nahmen eine Million Menschen teil. Für Joachim Hentschel war sie Ausdruck „einer ständigen Lebenshaltung“.
© Peer Grimm/picture alliance / dpa

Bücher von Joachim Hentschel und Maik Brüggemeyer: Das Ende der Welt, und wir wissen es

Erinnerung, sprich: Joachim Hentschel und Maik Brüggemeyer erzählen in "Zu geil für diese Welt" und "I' ve been looking for Frieden" deutsche Pop-Geschichten.

Durchhalten bis zur Dämmerung, bis es wieder hell wird. Wie weit lässt sich die Augenblicksekstase dehnen, kann man die Zeit anhalten? Seinen ersten Rave erlebt Joachim Hentschel im Sommer 1994 oder ’95 in einem schwäbischen Wald, unweit von Tübingen, wo er damals studiert. Fünfhundert Menschen sind auf einer Lichtung zusammengekommen, aus den Boxen knattern harte Technorhythmen, sie trinken, sie jubeln, sie tanzen und sind für ein paar Stunden gemeinsam glücklich. „Das Herz schlägt und schlägt und schlägt. Du trittst einmal fest in Richtung Bass, aber dein Fuß landet im Moos. Der Himmel vibriert, fast wie eine Lautsprechermembran. Und da, schaut mal alle hin: die Sonne! Rot-gold-gelb. Sie ist es wirklich.“

Ein paar Jahre vorher, am Heiligabend des Jahres 1981, in einem festlich geschmückten Wohnzimmer im Tecklenburger Land. Maik Brüggemeyer, fünf Jahre alt, hüpft mit einem Spielzeuginstrument neben seinem Großvater herum, der sein Akkordeon umgeschnallt hat und zur Weihnachtserbauung ein paar Lieder spielt. Zu seinem Repertoire gehören Märsche, Volksmusik, Schlager. Am eindrucksvollsten sind wehmütige Balladen wie „La Paloma“ oder die „Capri-Fischer“.

Beide Lieder stammen aus den Jahren, die in der Familie nur „die Hitlerzeit“ genannt wird. Der Großvater hatte den Krieg an der Ostfront und vier Jahre Gefangenschaft hinter sich. Obwohl er so gut wie nie über seine Erlebnisse sprach, war der Krieg doch, so der Enkel, „bis zu seinem Tod im Sommer 1990 immer präsent – in depressiven Phasen und cholerischen Ausbrüchen, in Tränen und im aufgebrachten Herumbrüllen.“

Der Siegeszug des Pop war unaufhaltsam

Der Journalist Joachim Hentschel und Maik Brüggemeyer, der Redakteur bei der deutschen Ausgabe des „Rolling Stone“, haben zwei Bücher veröffentlicht, die auf sehr persönliche Weise von der Geschichte der deutschen Popmusik erzählen. Joachim Hentschel schildert in „Zu geil für diese Welt“, was die neunziger Jahre, das Jahrzehnt von Techno, Grunge und Britpop, mit ihm und der frisch wiedervereinigten Nation gemacht haben. „Wer sich an die 90er erinnert, hat sie erlebt“, schreibt er. Weil sie die Dekade waren, „die uns nachhaltig die Augen öffnete. Die uns aufklärte über unsere Grenzen. Die uns erst den Horror und dann die Erlösung zeigte.“ Maik Brüggemeyer hangelt sich in „I’ve Been Looking For Frieden“ an zehn Songs entlang durch die bundesdeutsche Historie, von dem Schlager „Die Capri-Fischer“ über „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ von Ton Steine Scherben und Nenas „99 Luftballons“ bis zu „Nichtstun“, einem Stück der Berliner Sängerin Balbina aus dem Jahr 2017.

Der Siegeszug des Pop war unaufhaltsam. Was als Gegenkultur begann ist längst im Mainstream angekommen. Trotzdem gibt es immer wieder Rebellionen und Neuanfänge. „Zu geil für diese Welt“, den Titel seines Buches, hat Hentschel von den Fantastischen Vier geborgt. Mit dem Video dazu begann 1993 das Programm des Kölner Musikfernsehkanals Viva. Gegründet worden war der Privatsender von der deutschen Musikindustrie als Antwort auf den amerikanischen Vorläufer MTV, eine, so Hentschel, „wettbewerbsrechtlich windige, aber im Grunde grandiose Idee der Plattenfirmen“. Denn die Teenager, die zuhause gleich nach der Schule Sendungen wie „Interaktiv“ oder „Vivasion“ einschalteten, verfügten über eine Menge Taschengeld.

Schön ist das Kapitel, in dem Joachim Hentschel noch einmal eine VHS-Cassette anschaut, auf der er einen Viva-Nachmittag von 1997 festgehalten hat. Er sieht Videos von Jay Z, Edwyn Collins, den Spice Girls und Tic Tac Toe, Werbespots für Chips, Filzstifte und Fanta. Zwischendurch werden Nachrichten verlesen, in denen es um ein Konzert von Michael Jackson und den Selbstmord des Sängers der Elektropopband Squeezer geht. „Heute wären das typische Internetnews, kleine Snacks zum Zeittotschlagen an der Bushaltestelle.“ Damals gibt es das Internet zwar schon, aber benutzt haben es nur wenige Nerds. Das wichtigste deutsche Jugendmedium war die Zeitschrift „Bravo“, die pro Woche 1,4 Millionen Hefte verkaufte. Heute erscheint das Magazin nur noch alle zwei Wochen, die Auflage liegt bei 100 000. Und Viva ist angesichts von Konkurrenten wie Youtube überflüssig geworden. Am 31. Dezember wird der Videosender abgeschaltet. Internet kills the Videostars.

Joachim Hentschel schreibt anekdotisch, ausschweifend und mitunter wehmütig

Die neunziger Jahre begannen eigentlich schon etwas früher, am 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel. Der Westen hatte den Kalten Krieg gewonnen, die Deutschen lagen einander in den Armen. Endete damit die Geschichte, wie es der Politologe Francis Fukuyama behauptete? Oder ging sie bloß auf andere Weise weiter, friedlicher, fröhlicher und freier? Eine Zeit lang, so Hentschel, konnte man an die „virtuelle Allmöglichkeit der Dinge“ und das Ende der „alten, rostigen Ideologien“ glauben. Das Wort „Wahnsinn!“ machte Karriere, bald wurde es vom Ausruf „krass!“ abgelöst. Krass war zum Beispiel Techno, eine Musik, die in Detroit erfunden worden war und dann in den Freiräumen des Nachwende-Berlins ihr ideales Habitat fand.

Dort wurde Techno zu einer Art elektronischer Lebensreformbewegung, zur Utopie. Die Parolen lieferte der DJ Westbam: No More Fucking Rock and Roll! We’ll Never Stop Living this Way! Die Loveparade, der anfangs 150 Teilnehmer über den Ku’damm gefolgt waren, erreichte 1999 ihren Höhepunkt, als 1,5 Millionen Raver im Tiergarten hinter den mit Lautsprechertürmen beladenen Trucks hertanzten. Allerdings war die Love Parade keineswegs, wie oft behauptet, ein Karneval, also eine saisonale Sause, sondern, so Hentschel, die „Feier einer ständigen Lebenshaltung, eines kollektiven Zustandes“. Kulturkritikern ging der Hedonismus der angeblichen „Spaßgesellschaft“ zu weit. Doch der Techno-Umsturz blieb aus, der Spaß versandete. Hentschel lässt die Neunziger verspätet enden, am 11. September 2001. Die Terroranschläge islamistischer Möchtegern-Märtyrer signalisieren einen Zeitenbruch.

Joachim Hentschel schreibt anekdotisch, ausschweifend und mitunter wehmütig. Manchmal erinnert sein autobiografisch grundiertes Buch an einen Pop-Roman, ein Genre, das 1995 mit Christian Krachts „Faserland“ in Deutschland populär wurde. Maik Brüggemeyer geht analytischer vor. Im Pop spiegelt sich bei ihm immer auch die Zeitgeschichte. Die erfolgreichste Single des Jahres 1968 war Heintjes „Mama“, aber wirkmächtiger sollten die „Ho-Ho-Ho- Chi-Minh“-Sprechchöre sein. Den Studentenführer Rudi Dutschke und seine atemlosen Reden beschreibt Brüggemeyer als Vorreiter des Rap.

Rock’n’Roll war in Deutschland lange eine Importware

Rock’n’Roll war in Deutschland lange eine Importware. Erst mit dem Krautrock, der statt auf dem Bluesschema auf strengen motorischen Beats und der Neuen Musik basierte, fand Pop hierzulande eine eigene Sprache. Aus seiner Bewunderung für das Kölner Klangkollektiv Can macht Maik Brüggemeyer kein Hehl. Auf der Suche nach dem Unerforschten schnitt die Band stundenlange Improvisationen mit, um aus den intensivsten Momenten ein Stück zu montieren. Die antihierarchische Arbeitsweise versteht Brüggemeyer als Gegenmodell zur durch Kontrolle geprägten Adenauer-Ära und ihrem Slogan „Keine Experimente“.

Der Titel „I’ve Been Looking For Frieden“ entspringt einem Hörfehler. Silvester 1989 sang David Hasselhoff live im Fernsehen von einer Hebebühne herab, die über der Berliner Mauer schwebte, seinen größten Hit: „I’ve Been Looking For Freedom.“

Doch Frau Lüdinghaus, Brüggemeyers Englischlehrerin in Ibbenbüren, verstand „Frieden“. In Wirklichkeit spielt „Freedom“, also Freiheit, auf den Optimismus des amerikanischen Traums an, später behauptete der Sänger und Schauspieler, dass sein Song den Sozialismus gestürzt habe. Warum auch nicht? Ohne den „Knight Rider“ und sein sprechendes Auge mit dem Namen K.I.T.T. würde, das weiß jeder, der die Serie mit 9 oder 10 Jahren geguckt hat, die Mauer immer noch stehen.

Über Pop gleichzeitig klug und witzig zu schreiben, hat in Deutschland, anders als in Großbritannien und Amerika, keine lange Tradition. Maik Brüggemeyer und Joachim Hentschel beherrschen diese Kunst. Bitte mehr davon.

Joachim Hentschel: Zu geil für diese Welt. Die 90er – Euphorie und Drama eines Jahrzehnts, Piper Verlag, München 2018. 319 Seiten, 15 €.
Maik Brüggemeyer: I’ve Been Looking For Frieden. Eine deutsche Geschichte in zehn Songs. Penguin Books, München 2018. 284 Seiten, 10 €.

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