Treffen mit Aylin Tezel: Das eine und das andere Leben
In der Kinokomödie „Coming In“ verzückt sie derzeit ihr Publikum mit natürlichem Charme. Doch die Schauspielerin Aylin Tezel kann auch Melancholie. Und wie.
Bodenständig ist sie, keine Frage. Das trägt sie vor sich her und um sich herum und sagt es ja auch selber, als sei es eines ihrer Lieblingswörter. „Ich komme aus einer unfassbar tollen, liebevollen, sehr bodenständigen Familie.“ Mittleres Kind von dreien, ältere Schwester, jüngerer Bruder, Vater türkischer Arzt, Mutter deutsche Krankenschwester, man weiß das, man kann das nachlesen, geboren in Bünde/Ostwestfalen bei Bielefeld vor bald 31 Jahren. Ostwestfalen, sehr bodenständige Gegend, nicht weit weg vom eher südwestfälischen Dülmen übrigens, wo Kollegin Franka Potente herkommt, noch so ein süß tönendes Städtchen mit „ü“ und genauso klein.
Total bodenständig wirkt Aylin Tezel („Tezel wie Gemetzel“, sagt sie manchmal) auch in ihren Kinokomödien, die sie aufmischt mit ihrer unbedingten Natürlichkeit. Etwa in „Almanya“ der Schwestern Yasemin und Nesrin Samdereli, womit sie 2011 auf der Berlinale plötzlich berühmt wurde, dieser Kültür-Clash-Story einer deutschtürkischen Familie, die auf einer turbulenten Reise in die Türkei ihre Luftwurzeln sucht. Oder auch, ein Jahr später, in Dietrich Brüggemanns „3 Zimmer Küche Bad“, der WG-Komödie um ein paar Freunde auf der höchst beschwerlichen Suche nach einer Art Platz im Leben. Große Nebenrollen waren das, aber wenn Aylin Tezel, zwar eher schmal, bodenständig ins Bild bretterte, war sie plötzlich Mitte, und wie.
Seit zwei Jahren spielt Aylin Tezel im Dortmunder "Tatort" mit
Neuerdings heißt sie Heidi, bodenständiger geht’s nicht. In Marco Kreuzpaintners charmanter Romantikkomödie „Coming In“ – und die Geschichte ist tatsächlich so hochamüsant wie tiefromantisch – dreht die Nordneuköllner Kiezfriseurin Heidi einen edelschwulen Mitte-Coiffeur mal eben verdammt bodenständig um. Während der von Kostja Ullmann gespielte dunkeläugig süße Tom sich mit seinem Freund neckisch Herzchen aufs beschlagene Duschglas malt, hat die dunkeläugige Heidi das Herz absolut auf dem rechten Fleck. Und da pocht es so herzzerreißend, dass die Kinosaalwandlautsprecher am liebsten laut mitwummern würden.
Beim Interview im edlen Berliner Mitte-Hotel de Rome allerdings erst mal ein Schock: Dieses überirdisch zurechtgemachte Superstar-Wesen, winzig erscheinend auf der Riesencouch, das soll Heidi oder auch Maria oder Canan aus den früheren Filmen sein und folglich zumindest ein bisschen auch Aylin Tezel selber? Na klar, ist sie doch, fast von Anfang an. Schon wie sie, mit ihrer ohnehin eher schmetternden Stimme, laut loslacht, wenn eine Reaktion auf sogenannte provokante Fragen gefordert ist, und das Lachen allein verwandelt das elegante Setting in ein gemütlich dimensioniertes Wohnzimmer. Seit zwei Jahren im Dortmunder „Tatort“ das Ermittlerküken zu sein in einem Viererteam, ist das nicht öde? So was lacht sie – „Nee, mit öden Dingen verbringe ich nicht meine Zeit“ – erst mal weg, bevor sie eine ausgesucht druckreif vorbereitete, nach allen Seiten hin löbliche Antwort gibt.
Sie sei ein schüchternes Kind gewesen, habe viel allein gespielt
Ja, Aylin Tezel kann durchaus für eine Halbsekunde bodenständig entrüstet klingen, bevor sie das Gespräch konzentriert weitertreibt. Bringen Regisseurinnen Glück, wo doch die Rollenangebote von Männern manchmal eher mittelprächtig sind? Großes Weglachen: „Das würde ich so nicht sagen!“ Und schon würdigt sie Filmkolleginnen namentlich, neben den Samdereli-Schwestern etwa Miriam Klein, die Aron Lehmanns vielgepriesenen „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ produziert hat. Oder auch Anika Decker, Erfinderin der Til Schweiger-Hits „Keinohrhasen“ und „Zweiohrküken“; demnächst debütiert die Drehbuchautorin mit „Traumfrauen“ als Regisseurin.
Oder auch Pola Beck. Der Name führt sachte hinüber zur ernsteren, fragileren Seite von Aylin Tezel, die all das Bodenständige zu dementieren scheint und es dann umso imponierender hervortreten lässt. Vor zwei Jahren kam, vom Publikum kaum beachtet, Becks Potsdamer HFF-Abschlussfilm ins Kino, „Am Himmel der Tag“, und darin spielte Tezel ihre erste große Hauptrolle. Ihre Lara driftet zunächst haltlos durch Berlins Clubnächte, und nach einem One-Night- Stand schwanger, beschließt sie, das Kind zu behalten, das aber im sechsten Monat stirbt. Für die Unendlichkeit von ein paar Tagen ist Lara mit dem toten Kind im Bauch unterwegs, ungläubig, trauernd, verloren – und da war plötzlich eine Aylin Tezel zu spüren, die gelebten, gespürten, imaginierten Schmerz ihren Rollen unterzumischen weiß, sogar, man muss nur genau hinsehen, in die vitale Heidi von „Coming In“.
Aylin Tezel ist ausgebildete Tanzpädagogin
Ein schüchternes Kind war sie, sagt sie, mitten im schönen familiären Gewusel, „ich habe gern allein gelesen und gespielt“. Und als „romantischer Teenager“ – „Ich war überhaupt kein Groupie-Typ“ – hat sie Gedichte und Geschichten geschrieben und gezeichnet und diese Fantasie auch in der Schauspielerei nicht aufgegeben, die „Lust, als andere Figur durch die Welt zu gehen“. Mit Anfang Zwanzig wurde sie an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch angenommen, eine Zwei-Jahres-Episode nur. Aylin Tezel brach die „sehr naiv und offen“ angegangene Ausbildung ab, weil sie „meine Welt enger machte, auf eine Theaterkarriere hin“. Nicht, dass damals schon die Filmangebote nur so herbeigeströmt wären – „ich wusste nur, ich muss meinen Weg selber gehen.“
Eine weitere Kreativität gibt es, die Aylin Tezel antreibt, und darüber erschließt sich ihr so zielstrebiges wie zart eigensinniges Wesen womöglich substanziell. Als sie sechs Jahre alt war, meldeten die Eltern sie zum Ballettunterricht an, und nach Jahren der von steter Ungeduld getriebenen „Angst, dafür nicht gut genug zu sein“, kam mit 14 und mit einem neuen Lehrer die Befreiung hin zu dieser Kunst. Tezel ist ausgebildete Tanzpädagogin und hat, auch als sie schon in Berlin lebte und die Filmkarriere losging, oft Workshops im heimischen Bielefeld gegeben. „Tanz beruhigt mich, füllt den Moment aus“, sagt sie. Oder: „Tanz ist etwas, das Seele und Körper einmal verstanden haben, und es geht nicht mehr raus, wie Sprache oder“ – bodenständiger formuliert – „wie Fahrradfahren“.
Die Liebe zum Tanz macht auch, dass sie seit ein paar Jahren, einstweilen nebenbei, die Seiten wechselt, vom schauspielerischen Medium für andere zur Filmemacherin. Es gibt eine 40-MinutenDoku über die Probenarbeit des britischen Choreografen Royston Maldoom („Trust Me It Works“), berühmt spätestens seit seinem Projekt mit Simon Rattle, das Thomas Grube 2004 im mitreißenden Tanzfilm „Rhythm Is It“ verewigte. Tiefer aber noch ins Eigene führt ihr 25-Minuten-Essay „Tanz mit ihr“, bei dem sie Regie führte, das Drehbuch schrieb, eine Hauptrolle spielte, und die 20 000 Euro Produktionskosten sind „auch aus meinem Portemonnaie rausgefallen“. Ein paar kleinere Festivals zeigten den letztes Jahr gedrehten Film, und bald wird er auf Arte zu sehen sein.
Aylin Tezel spielt darin die Außenseiterin unter Ballettschülerinnen, tablettensüchtig offenbar und driftend zwischen Realität und Traum. Sie erfindet sich einen Tanzpartner (Felix Ariel Castillo Castro) und spielt sich mit ihm in Umschlingungs- und Losreißungsmomente hinein, bis sie den jungen Mann tatsächlich irgendwo in der Stadt sieht, auf einem Sportplatz Fußball spielend oder auch vorbeigehend an einem Café. Das Mädchen stürzt hinaus und dem Jungsphantom hinterher. Glücklich endet das nicht. „An manchen Tagen wird die Angst so groß, dass ich erstarre“, tönt Aylin Tezels Stimme leise im Off, „aber wenn ich wieder Luft hole, fließt für den Bruchteil einer Sekunde ein anderes Leben durch meine Adern.“
Ein anderes Leben: Etwas pathetisch klingt das, so sorgen- und sehnsuchtsvoll, und deutet doch beiläufig auf einen emotionalen Kern. Bodenständig mag Aylin Tezel immer wieder erscheinen, sehr zu Recht. Eigentlichen Halt aber, den wichtigeren, findet sie in der Luft. So jemand fliegt hoch und weit.
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