Neues Album "Ye": Das Chaos im Kopf des Kanye West
Er habe eine bipolare Störung, sagt Kanye West. Und manchmal bekomme er Angst vor sich selbst. Sein Album „Ye“ ist Dokument eines fortgesetzten Dramas
Bei jedem anderen würde das Album, das auf einen psychischen Zusammenbruch folgt, einen Nutzen aus der Schwäche ziehen. Zumindest würde es den Versuch unternehmen, zu den Gründen vorzudringen. Nicht so bei Kanye West, dem berühmtesten HipHop-Star der Welt. Er ist ein vom Erfolg traumatisiertes Genie. Nachdem seine Mutter bei einer von ihm finanzierten Schönheitsoperation starb, hat er sich - wie einst Muhammed Ali - auf den Weg einer Selbstermächtigung begeben, die moralische Kategorien sprengen will, da alles, was richtig und falsch ist, von denen vorgegeben werde, die die Macht schon besitzen. „It’s a different type of rules that we obey“, ruft er jetzt. Aber wem ruft er es zu? Gesinnungsgenossen in dem Sinne hat er nie gefunden. Er ist allein.
Das zeigte sich in den vergangenen Tagen wieder ziemlich drastisch an der Art, wie sein achtes Album an die Öffentlichkeit gelangte. „Ye“ heißt es und war von West großspurig angekündigt worden. Doch alle verlässliche Verbindungen in die Realität hat der notorisch sich unverstanden glaubende HipHop-Rebell gekappt. Mit dem Streamingdienst Tidal hat er sich zerstritten. Das Vorgänger-Album „The Life of Pablo“ war noch exklusiv auf Jay-Z’s Plattform zu hören. Doch dann behauptete Kanye West, er sei um drei Millionen Dollar betrogen worden. Auf welche Weise also sollte sich die Musik diesmal Gehör verschaffen?
Am Donnerstag lud West den Schwarm zu einer Listening-Session nach Wyoming ein. Dorthin hatte er sich selbst zurückgezogen, um auf der exklusiven Diamond Cross Ranch wie besessen an all den Stücken und Alben zu arbeiten, die er als Produzent, Co-Autor und Musiker in dichter Folge zu veröffentlichen gedenkt. Ein Livestream begleitete das Ereignis, das ausgewählten Musikjournalisten und seinen mit Privatjets eingeflogenen Influencer-„Freunden“ an prasselnden Lagerfeuern und im Dunstschleier von Grillsteaks geboten wurde. Warum so viel Aufwand für sieben neue Songs?
West führt ein Leben, das Gift ist für einen Künstler
„Ye“ ist die jüngste Metamorphose Wests, der sein Alter Ego und seinen Markennamen Yeezus nun zum Kürzel macht. Ein weiterer Baustein im Imperium. Aber West ist eben auch der Sohn einer heiligen Mutter. Der spektakulären Einweisung in die Psychiatrie im November 2016 war ein Nervenzusammenbruch am neunten Todestag seiner Mutter vorausgegangen. Als er im Jahr zuvor einmal gefragt wurde, was er für seinen Erfolg geopfert habe, antwortete er: „Meine Mutter.“
Nun musste er in seiner seelischen Not aber erstmal seiner Frau Kim Kardashian nach einem Raubüberfall beistehen, sein lange geplantes Album abschließen und eine Tournee vorbereiten, bei der er alles anders machen wollte. Bei der Premiere hob er die Grenzen auf zwischen Publikum und Künstler, eigener Modenshow und Theaterperformance, und schien auch den Unterschied zwischen sich und der Masse einebnen zu wollen. Doch das revolutionäre Konzept ging unter im wirren Verhalten, das er an den Tag legte und das ihn kurz darauf völlig ausgebrannt Beistand in einer Klinik suchen ließ.
Es ist offensichtlich: West führt ein Leben, das Gift ist für einen Künstler mit seinem Anspruch. An der Seite eines Celebrity-Stars und als Mitglied des verschwenderischen Kardashian-Klans, ist er umgeben von oberflächlicher Geschäftstüchtigkeit. Die Angst der TV-Promis, alles, was sie sich aufgebaut haben, durch ein unbedachtes Wort, ein unvorteilhaftes Auftreten wieder zu verlieren, ist so groß, dass sie panisch darauf bedacht sind, keine Fehler zu machen.
Kanye West macht die Öffentlichkeit zum Spiegel seiner Aggressionen
Dagegen rebelliert West. Aber wohin führt es ihn? Er rappt über Psychopharmaka und halluzinogene Drogen. Droht, sich umzubringen. Droht auch allen anderen mit allem Möglichen. Schildert, wie sie in seiner Familie ausflippten nach seiner Äußerung, dass die Sklaverei „a choice“ gewesen sei, eine Frage des Willens, nicht äußerer Umstände. Die Schwarzen sollen selbst schuld an der Sklaverei gewesen seien? Das fanden erst vor wenigen Wochen viele Menschen in den USA nicht amüsant. Oft geht er nach diesem Muster vor: Egal, ob mir alle abraten, ich mach’s einfach und sehe, was passiert. Er macht die Öffentlichkeit zu einem Spiegel seiner Aggressionen – und ist dann erstaunt über die Heftigkeit der Ablehnung.
Aber Provokation ist kein tragfähiges künstlerisches Konzept. Nicht mal für einen Rapper, wie die auf West folgende Generation um Kendrick Lamar zeigt. Die verdankt ihm und seinem Umgang mit aggressiven Sounds sehr viel, aber sie versteht ihn immer weniger. Das musste er zuletzt bei der Veröffentlichung des Albumcovers von Pusha Ts „Daytona“ erleben.
Als Produzent des Albums war er an das Bild von Whitney Houstons Badezimmer herangekommen, in dem die Sängerin gestorben war. Es zeigt das mit Drogen und Medikamentenpackungen übersäte Waschbecken. Für das Foto hatte er 85.000 Dollar ausgegeben, und er meinte, dass er die Summe selbst bezahlen würde, als Pusha T nicht so viel dafür ausgeben wollte. Ohnehin fühlte er sich von West überrumpelt. Die Angehörigen von Whitney Houston reagierten schockiert. Sie fanden es „geschmacklos“ und zeigten sich fassungslos darüber, dass West „so weit in die Privatsphäre der verstorbenen Künstlerin eindrang“.
Und dann ist da noch Wests Parteinahme für Trump, der unter vielen Schwarzen als Rassist gilt. Er „liebe“ ihn, so twitterte West. Mag sich diese Geste auch schlicht daraus erklären, dass er den Präsidenten als starken Mann erlebt, der die richtigen Methoden anwendet, nämlich dieselben wie er, so ist sie doch des Sohnes eines früheren Black-Panther-Aktivisten unwürdig. Was politisch in den USA abgeht, interessiert ihn immer weniger. In den neuen Songs kommt kaum etwas von den Erschütterungen an, die die Debatten prägen. Für Metoo hat er nur Hohn übrig.
Im ersten Stück von "Ye" macht er aus einer Gewaltfantasie einen Liebesbeweis
„The most beautiful thoughts are always besides the darkest“, singt er im Auftaktstück, von "Ye" das der Form nach den Charakter einer Beichte hat. Kein Beat, bloß ein blasses Synthie-Rauschen, er spricht: „Today I seriously thought about killing you.“ Auf wen das gemünzt ist, sagt er nicht. Aber aus dieser Gewaltfantasie entwickelt er einen Liebesbeweis, indem er meint, dass man nur das, was man wirklich liebe, auch umbringen wolle. Ein äußerst kruder Gedanke ist, dem Hirn eines Borderline-Egomanen entsprungen. „And I think about killing myself, and I love myself way more than I love you, so...“
Es ist dieser Aspekt der Verhöhnung, der so verstörend ist, geht er doch weit über die im HipHop üblichen prahlerischen Gemeinheiten hinaus. Kanye West argumentiert wirklich außerhalb des Kanons. Und das Beängstigende: Er weiß das. „Die Leute sagen, ,sag dieses nicht’ oder ,sag jenes nicht’ / Ich sag’s laut, nur um zu sehen, wie es sich anfühlt“, erklärt er seine Methode des kalkulierten Skandals, der ihm als Borderliner die Bestätigung gibt, die er braucht. Er setzt Gefühle als Waffe ein – auch gegen sich selbst. So heißt es weiter: „Sometimes I think really bad things / Really, really, really bad things.“ Man erfährt nicht, was dieses Schlechte ist, das sich seiner Gedanken bemächtigt. Aber wie er seine Stimme an dieser Stelle künstlich verlangsamt, wie sie sich aufbläht zu einem düsteren Raunen, da weiß man, dass man sich in Acht nehmen muss.
West sagt, er bekommt manchmal Angst vor sich selbst
Der Schriftsteller James Baldwin schrieb in seinem Buch „Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung“, dass materieller Aufstieg in einer rassistischen Gesellschaft wie den USA nicht ausreiche, um sich akzeptiert zu fühlen. Für einen Schwarzen, der nicht willkürlich verhaftet, geschlagen, drangsaliert oder gelyncht werden wolle, brauche es „einer Handhabe, eines Drückers, etwas, womit man Furcht einflößen könne“. Wests Drücker ist der Irrsinn. Das chronisch gereizte Temperament des Genies. Er wandelt am Abgrund als einer, der sagt, dass er manchmal Angst vor sich selber bekomme.
Diese Zeile findet sich in „Yikes“, einem Song über Drogensucht, mit dem er seine eigene Abhängigkeit thematisiert („I done died and lived again on DMT, huh / See this a type of high that won't come down / This the type of high that get you gunned down / Yeezy, Yeezy trollin' OD, huh“). Und er schildert, wie ihn die rezeptpflichtigen Mittel mürbe und überempfindlich machen. Sie trieben ihn in den Wahn.
Der Höhepunkt des Albums: "Yikes"
Und wie im Wahn bekräftigt er schließlich noch einmal, dass er sich selbst für einen „Superhelden“ hält. Danach schreit er nur noch – ähnlich wie Jim Morrison in „The End“, als ihm auf die Zeile „Father, I want to kill you / Mother, I want to …“ nichts mehr einfiel.
„Yikes“ ist zweifellos der musikalische Höhepunkt des 30-minütigen Albums. Die anderen Songs sind Skizzen einer wachsenden Entfremdung. Beinahe verzweifelt versucht Familienvater Kanye West seine Sentimentalität zu erklären. Etwa wenn er sich fragt, was seine Tochter einmal von ihm denken wird („Violent Crimes“).
West hat „Ye“ als Teil eines insgesamt fünf Alben umfassenden Projekts beschrieben, die er mit Pusha T., Kid Cudi und weiteren Mitgliedern seiner Truppe aufgenommen hat. Sie sollen bis Mitte Juni in dichter Folge erscheinen. Denn daran hat West auch immer geglaubt: dass das beste Mittel gegen das Chaos im eigenen Kopf Chaos ist.