Musical „Das Wunder von Bern“ am Stage Theater: Das Bunte muss ins Scheckige
Ein Wahnsinnsgeschäft: Mit dem Fußball- und Wirtschaftswunder-Musical „Das Wunder von Bern“ wird Hamburgs viertes Musicaltheater eingeweiht.
Hamburg ist wieder wer. Und zwar die drittwichtigste Musical-Metropole der Welt, nach New York und London. Mit der Eröffnung des „Stage Theaters an der Elbe“ gegenüber den Landungsbrücken verfügt die Hansestadt nun über vier Häuser für das Genre der Live-Unterhaltung. Gut 2,6 Millionen Musical-Besucher werden pro Jahr erwartet. Die Gäste bleiben im Schnitt drei Tage und geben 300 Euro pro Kopf aus. Ein Wahnsinnsgeschäft.
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die spröden Hamburger Karriere im Showbiz machen würden, als 1986 im Operettenhaus an der Reeperbahn die deutsche Erstaufführung von „Cats“ herauskam? Die Katzen-Show lief blendend; gegen massiven Widerstand aus der alternativen Szene wurde bald die „Neue Flora“ hochgezogen, wuchtige Investorenarchitektur für das wuchtigste aller Andrew-LLoyd-Webber-Stücke, „Das Phantom der Oper“. Seit 2001 läuft in einem zeltartigen Bau am Hafen „Der König der Löwen“, zehn Millionen Tickets hat die Stage Entertainment für die Bühnenversion des Disney-Films bereits verkauft.
Der Unterhaltungskonzern Stage Entertainment ist Musical-Marktführer in Deutschland, die Firma des 72-jährigen Holländers Joop van den Ende, der zusammen mit John de Mol durch TV-Shows wie „Big Brother“ oder „Traumhochzeit“ reich wurde, betreibt hierzulande zwölf Bühnen – in Berlin das Theater des Westens, das Theater am Potsdamer Platz und die Spielstätte der Blue Man Group. 50 Millionen Euro hat van den Ende investiert, um sein neuestes Hamburger Haus hochzuziehen. Hinzu kommen Produktionskosten in Höhe von 15 Millionen Euro für die Eröffnungsproduktion, die am Sonntag ihre Promi-Premiere erlebte. Das „Wunder von Bern"-Musical kostet damit doppelt so viel wie Sönke Wortmanns Film von 2003.
In der Hamburger Großmarkthalle entsteht gerade Hamburgs Musicaltheater Nummer Fünf
Wo so viel Geld mit leichter Unterhaltung zu holen ist, wollen auch andere mitverdienen. Ganz so potent wie van den Ende ist Maik Klokow zwar nicht, doch als ehemaliger Deutschland-Chef von Stage Entertainment weiß auch er genau, wie das Zielpublikum tickt. Klokow hat sich einen Teil der Hamburger Großmarkthalle für sein „Mehr! Entertainment“-Theater gesichert. Hier, wo täglich unweit des Hauptbahnhofs tonnenweise Obst und Gemüse umgeschlagen werden, entsteht gerade der mit 2400 Plätzen größte Zuschauerraum der Hansestadt. Um zu zeigen, wie multifunktional das Haus nutzbar sein wird, weiht Klokow die Bühne im März mit einem Konzert des London Symphony Orchestra ein. Danach laufen hier seine Tourneeproduktionen von „Dirty Dancing“ und „We will rock you“.
Vom „Dreiklang Musicals, Reeperbahn und Elbphilharmonie“ schwärmt derweil die Hamburger Handelskammer. Wenn die Bruttowertschöpfung von Musikwirtschaft und -tourismus an der Elbe jetzt schon bei knapp einer Milliarde Euro pro Jahr liegt, dann ist ein weiteres dickes Plus zu erwarten, wenn Klokows Bühne und ab Frühjahr 2017 endlich auch die Elbphilharmonie die Massen anlocken: „In Zukunft wird Musik in Hamburg für fast jeden zweiten Deutschen einen Reiseanlass darstellen und damit in der touristischen Relevanz mit dem Hamburger Hafen fast gleichziehen.“ An den Sieg der bundesdeutschen Fußballer 1954 bei der WM in Bern wollte ja zuerst auch keiner glauben.
Von dieser Endspielüberraschung lässt sich noch heute der Rahm abschöpfen. Nach dem Motto „Das Bunte muss ins Scheckige“ haben Regisseur Gil Mehmert, Texter Frank Ramond und Komponist Martin Lingnau Wortmanns Film auf die Hamburger Bühnenbretter gewuchtet. Zweidreiviertel Stunden dauert das Spektakel, das die bedrückende Spätheimkehrer-Geschichte der Ruhrpott-Familie Lubanski mit dem dramatischen Siegeszug der deutschen Kicker verquickt, eine Halbzeit länger als die Kinoversion. Die Nacherzählung ist dennoch kurzweilig. Das Timing der gefühlten 150 Szenenwechsel stimmt, das schauspielerische Niveau ist deutlich höher als in durchschnittlichen Musicalproduktionen, wie von Geisterhand bewegen sich Tische, Betten, Seeterrassen und ganze Zechenhäuser, allerhand wird aus der Versenkung hochgefahren oder schwebt vom Himmel herab.
WM-Finale in "Das Wunder von Bern": großes Illusionstheater
638 Kostüme und 100 Perücken beschwören den Geist der Fünfzigerjahre, 215 Paar Schuhe wurden handgefertigt, einschließlich der Retro-Treter von Herbergers Truppe. Den größten Effekt aber macht die 17 mal zehn Meter große LED-Wand im Hintergrund, die mit Panoramaansichten von rauchenden Schloten oder Berggipfeln stets anzeigt, wo wir uns gerade befinden, und täuschend echt die Einfahrt jener Dampflok simuliert, die den Spätheimkehrer Richard Lubanski aus Kriegsgefangenschaft zurück nach Essen bringt. Und der größte Coup ist das WM-Finale, das die Zuschauer aus der Vogelperspektive verfolgen: Während durch die Luft rennende Darsteller an Seilen auf und ab gezogen werden, fliegt ein virtueller Ball über die LED-Wand. Illusionstheater in Las-Vegas-Qualität.
Wenn es um das entscheidende 3:2 geht, darf die Show schon mal abheben – sonst aber beherzigt das Kreativteam die wichtigste Ruhrpott-Regel: Bodenständig bleiben! Was dieses Bühnen-Wunder von Bern so menschlich macht, so berührend, ist gewissermaßen das dramaturgische Eintopf-Prinzip. Wie Muttern weiland Steckrüben, Möhren, Sellerie, Kartoffeln und fetten Speck zusammen kochte, verbinden sich hier Boulevardkomödie und Rührstück, Coming-of-Age-Story und Zeitgeschichtsrevue zu einer szenischen Mischung, die tatsächlich allen Zielgruppen schmecken dürfte.
Das ist hemmungslos eklektisch und doch angemessen – weil auch die junge Bundesrepublik von Parallelwelten geprägt war, weil schon Sönke Wortmanns Vorlage das Nebeneinander von Weltkriegstrauma und Wirtschaftswunder betont, von alter Ideologie und demokratischem Denken. Nach diesem Rezept hat auch Martin Lingnau seine 20 Nummern komponiert: Da gibt es Popballaden und harten E-Gitarren-Rock, da werden Volkslieder angestimmt und Bigband-Parties gefeiert, da ist Platz für Polkas und Schlagerhaftes, Chansons und Soundtrackbombast. Lingnau, der seit 20 Jahren die Musik in Schmidts Tivoli betreut, ist eigentlich ein Off-Theater-Mann. Kein Hitproduzent mit Mainstream-Gen, sondern ein echter Liedermacher. Das bleibt selbst in den seifigen Orchesterarrangements von Ingmar Süberkrüb noch hörbar.
Wortmanns Film ging zu Herzen, durch den Gesang wird die emotionale Attacke noch einmal potenziert. Wer nicht schon bei der Siegesfeier der Fußballer vor Rührung flennt, der hat spätestens beim familiären Happy-End der Lubanskis einen Kloß im Hals – und darf sich vom kleinen Mattes trösten lassen. „Papa“, sind dessen letzte Worte, gerichtet an den endlich weich gewordenen Vater, „auch ein deutscher Junge darf mal weinen.“
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