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Szene aus Sönke Wortmanns Kultfilm "Das Wunder von Bern", 2003. Mit Knut Hartwig als deutscher Mannschaftkapitän Fritz Walter (r) bei der WM 1954.
© dpa

"Das Wunder von Bern": Elf Helden müsst ihr sein

Sönke Wortmann hat mit seinem „Wunder von Bern“ den besten Fußball-Film aller Zeiten gedreht – und ein Melodrama der frühen Bundesrepublik.

„Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister!!“ Schon einmal hatte die ekstatisch mitreißende Stimme des Rundfunkreporters Herbert Zimmermann nicht nur das Ende eines Fußballspiels, sondern das Finale einer Epoche bezeichnet. Das war vor 25 Jahren, als Rainer Werner Fassbinder in die Schluss-Szene seines Films „Die Ehe der Maria Braun“ die legendäre Reportage einblendete, just bevor die kriminalistisch-erotische Kriegs- und Nachkriegskarriere der Maria Braun (alias Hanna Schygulla) in einer Gasexplosion endete. Tod, Apotheose und dazu die Wiedergeburt eines Landes im Siegerstolz – das Ende der deutschen Nachkriegszeit. Diese Idee, eine individuelle Frauengeschichte (voller Männeraffairen) mit einem neuen kollektiven Mythos zu verbinden, Fanal und Finale also auf jenen 4. Juli 1954, den Tag des sensationellen 3:2-Triumphs über Ungarn im Berner Wankdorfstadion, zu legen, entstand übrigens erst während der Dreharbeiten.

Für Sönke Wortmann, der nun ein Vierteljahrhundert später an Fassbinders geniale Eingebung anknüpft, ist im „Wunder von Bern“ die Kombination von Fußball, Mythos und Geschichte bereits das Titel-Thema. In der Werbung zum Film heißt es jetzt: „Jedes Kind braucht einen Vater. Jeder Mensch braucht einen Traum. Jedes Land braucht eine Legende.“ Als Begleitmusik zu einem Hollywood-Epos würden wir darüber lächeln, weil Kitsch und Kunst, Pathos und Ironie dort ganz selbstverständlich zum Spiel (und zum Geschäft) gehören. Kommen solche Töne aus Deutschland, dann zuckt mancher gleich zusammen, im politisch oder ästhetisch korrekten Reflex. Aber der 44-jährige Sönke Wortmann ist doch frei von falschem Verdacht.

Wortmann war ja als Regisseur nie ein Pathetiker, mit „Kleine Haie“ und „Der bewegte Mann“ im Kino oder seinem Theaterdebüt mit Woody Allens „Bullets over Broadway“ hat er die schöne, in Deutschland noch immer seltene Fähigkeit zur intelligenten Komödie bewiesen. Außerdem ist er ein Kicker, hatte einst die Spielvereinigung Erkenschwick in die 2. Bundesliga geschossen, ein Fan und Fachmann, ein Ballbegeisterter. Sein alter Traum, das (vor Jahren abgerissene) Berner Wankdorfstadion noch einmal mit 22 Spielern und 40 000 Zuschauern zu füllen und jenen verregneten Nachmittag (das Fritz-Walter-Wetter) des Jahres 1954, von dem sich die Fernsehbilder nur in Bruchstücken erhalten haben, in einen Spiel-Film zu verwandeln, ist jetzt mit digitaler Unterstützung Kinowirklichkeit geworden.

Doch vor der virtuell vervielfachten Zuschauermasse kommen die erfundenen, aber real gespielten Einzelschicksale. Und wenn Tom Fährmanns Kamera über die nun wieder geisterhaft belebten alten Zechen und durch die graurußigen Arbeitersiedlungen des Ruhrpotts streift, ist man sofort gepackt, berührt, entführt in eine wiedergefundene Zeit der frühen Bundesrepublik. Hier bolzt der elfjährige Matthias Lubanski mit den Nachbarskindern auf einem kohledunklen Matschplatz, und mit eckigen Beinen jagt er einem aus Lumpen und Lederfetzen gewickelten Klumpen nach. Und weil auch Radios noch rar sind in der Siedlung Essen-Katernberg, meldet den jungen Fußballfans eine Brieftaube, dass Rotweiß Essen gerade 0:1 gegen Alemania Aachen verloren hat.

Matthias’ Mutter, gespielt von der wunderbaren Johanna Gastdorf, hat ihn und seine beiden älteren Geschwister als Kneipenpächterin durch den Nachkrieg gebracht. Jetzt steht die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz bevor, da kehrt der frühere Bergmann Richard Lubanski als Spätentlassener aus der russischen, sibirischen Kriegsgefangenschaft zurück. Schon am Bahnsteig verwechselt er seine älteste Tochter mit der eigenen Frau, und Matthias, den er beim letzten Fronturlaub gezeugt hatte und von dem er nichts wusste, bleibt ihm zunächst fremd. Wortmann hat hier mit dem jungen Louis Klamroth und seinem realen Vater Peter Lohmeier Film und Leben gemischt – und der kleine blonde Klamroth, der erst stumm und starr verstört auf den nie gekannten Vater reagiert, er spielt Papa Lohmeier mit gleichsam kindlicher Unschuld (die für Profischauspieler zur kindlichen Grausamkeit werden kann) passagenweise an die Wand.

Wände, Barrieren gehören allerdings auch zur Rolle des Russlandheimkehrers. Untertage im Bergwerk erinnern ihn die ratternden Presslufthämmer an die MGs und Geschütze des Krieges, in der Familie versucht er mit körperlicher Gewalt die alte Zucht und Ordnung durchzusetzen: gegen die neue Selbständigkeit der (eben noch) Kriegerwitwe, gegen die Lust am beginnenden Rock’n Roll und die ersten antiautoritären Zuckungen von Tochter und älterem Sohn. Peter Lohmeier wirkt da manchmal noch wie gefangen in der bleiernen Zeit der Vergangenheit, ist in der Gegenwart nur ein Versteinerter. Und als er am Geburtstag seiner Frau die Familie zu versöhnen sucht und ihm alle dankbar sind, dass er ihnen einen ganz ungewöhnlich guten Braten aufgetischt hat, da stellt sich hinterher raus, dass er hierfür die beiden geliebten Karnickel von Matthias geschlachtet hat. Dieser Wechsel von Wärme und Freude zum fast kindsmörderischen Entsetzen ist eine der großartigen Szenen des immer wieder um atmosphärische Dichte, Zeitkolorit und sinnfällige Momente bemühten Films.

Bis zum späten Umbruch und Aufbruch richtet sich Lubanskis Starrsinn auch gegen die Fußballleidenschaft von Matthias, der als Faktotum und lebendes Maskottchen seinem Ersatzvater Helmut Rahn die Sporttasche tragen darf. Rahn, im Verein und in der Nationalmannschaft „der Boss“ genannt, ist der charmante Wildling, der Individualist, der gerne die Nacht durchzecht. Als wieder mal das Training bei Rotweiß Essen ansteht, muss ihn Matthias mit Steinwürfen gegen’s Fenster wecken. Der verschlafene Boss will die Uhrzeit wissen, und der spillrige Junge fingert eine alte Taschenuhr aus der kurzen Hose, klappt sie bedachtsam auf – in solch liebevollen Details zeigt sich Sönke Wortmanns Sinn für den Alltag und das Milieu jenes Lebens weit vor dem Digitalzeitalter.

Am schönsten aber sind die wirklichen Fußball-Szenen. Oft wirkt es so schwer erträglich, wenn in Filmen die Arbeit von Sportlern oder Künstlern mit Gegenschnitten und Nahaufnahmen von schwitzenden Muskeln, klavierspielenden Händen oder tupfenden Malerpinseln nachgestellt und gedoubelt wird. Wortmann jedoch hat fabelhafte Doppel-Spieler gefunden: als Charaktere und Typen – und als technisch exzellente Fußballer.

Wer da ein bisschen Ahnung hat, muss allein schon bewundern, wie perfekt die WM-Vorbereitung in der Sportschule Grünwald und dann die entscheidenden Spielzüge zwischen Ungarn und Deutschland inszeniert sind, mit durchgehenden, komplizierten Ballwechseln und Torszenen. Herrlich typgenau bis in die letzte pfälzische Dialektfärbung Knut Hartwig als provinziell redlicher, doch als Techniker und Beau zugleich ausstrahlender Kapitän Fritz Walter; treffsicher, seine Nörgler im Club mitunter komisch zielgenau vor den Kopf schießend auch Sascha Göpels Helmut Rahn. Die Hauptrolle im doppelten Sinn spielt indes ein Profiakteur: Peter Franke als Bundestrainer Sepp Herberger macht diese neben Adenauer und Erhard wohl einflussreichste Gründerzeitfigur der Bundesrepublik in seiner virtuosen Mischung aus bärbeißigem Herbergsvater, autoritärem Chef und schlagfertigem Taktiker zum Glanzstück.

Etwas konstruiert, doch im Effekt geschickt hat Wortmann zwischen das familiäre, soziale Ruhrpottstück und die WM-Spielebene noch die Geschichte eines jungen Münchner Sportreporters montiert, dessen reiche hübsche Braut mit ihrem höheren Unverständnis für Fußball am Ende mehr vom Spiel (und Herbergers Tricks) kapiert als der beflissene Fachmann. Überhaupt wirkt das Komödiantische stärker als das melodramatisch Gewollte. Wenn der ausbrechende ältere Lubanski-Sohn als Rockmusiker sein politisches Heil ausgerechnet in Ostberlin sucht (ein Jahr nach dem 17. Juni), wenn der Sibirienheimkehrer das Mitleid der einfachen Russen betont oder das „Deutsche Jungen weinen nicht“ in der Versöhnung von Matthias und dem Vater zum rührseligen „Auch deutsche Jungen dürfen manchmal weinen“ wird: Dann spürt man das Absichtsvolle, das politisch Korrekte, auf fernsehhafte Ausgewogenheit Zielende.

Allein: „Das Wunder von Bern“ ist auch ein Märchen, in dem Matthias über Berge zum Wunderfinale gelangt, die es auf dem Weg der Wirklichkeit nicht gibt. Wortmann hat hier also ein Traumspiel inszeniert, eine Illusion von Glück. Und das Erwachen aus dem Wirtschaftswunder, das nach dem Sieg von Bern begann, ist eine andere Geschichte.

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