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Entfesselte Gewalt: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.
© Reprodukt

Neuer Comic von Manu Larcenet: Das Böse ist unter uns

Leben und Tod, Schuld und Verantwortung: Manu Larcenet reflektiert in seiner Roman-Adaption „Brodecks Bericht“ die Abgründe der Conditio humana.

Die idyllische Dorfgemeinschaft, unter deren Oberfläche sich Abgründe verbergen, ist ein altbekanntes Szenario: Ein Mikrokosmos, in dem jedoch die großen Fragen von Leben und Tod, Schuld und Verantwortung, Individuum und Gemeinschaft verhandelt werden. Eigentlich bräuchte man von diesem dank etlicher Krimis überstrapazierten Sujet keine weitere Auflage mehr – doch selten wurde es so eindrucksvoll in Szene gesetzt wie jetzt von dem französischen Zeichner und Autor Manu Larcenet („Der alltägliche Kampf“).

Im Mittelpunkt seiner Comic-Adaption von Philippe Claudels Roman „Brodecks Bericht“ steht der Außenseiter und Naturkundler Brodeck, der in einem namenlosen Bergdorf wohnt. Eines Abends geht er ins örtliche Gasthaus und steht unvermittelt einer düsteren Gesellschaft gegenüber: Die Männer des Dorfes haben soeben gemeinschaftlich einen Fremden ermordet, der seit einiger Zeit hier wohnte und nur „Der Andere“ genannt wurde. Brodeck wird bedrängt, einen Bericht über die Gründe der Tat zu schreiben, der die Täter vor der Öffentlichkeit rechtfertigen und freisprechen soll.

Schuld und Unschuld

Notgedrungen willigt Brodeck ein. Parallel zu diesem Bericht verfasst er jedoch einen zweiten, in dem er nicht nur seine Geschichte, sondern auch die des Dorfes erzählt. Zunehmend gerät er selber ins Visier der Mörder und Mitwisser: „Da ich dies schrieb, begriff ich plötzlich, wie gefährlich es ist, ein Unschuldiger unter Schuldigen zu sein ... Im Grunde nicht anders, als der einzige Schuldige unter Unschuldigen zu sein.“

Erzählen ohne Worte. Manu Larcenet gilt als einer der besten Comiczeichner Frankreichs.
Erzählen ohne viele Worte. Manu Larcenet gilt als einer der besten Comiczeichner Frankreichs.
© promo

Nach und nach entfaltet sich das Bild: Der Krieg ist noch nicht lange her, Soldaten hatten das Dorf monatelang besetzt, Brodeck war in ein Konzentrationslager verschleppt worden, überlebte und kehrte zurück. Die Ankunft des „Anderen“, eines exzentrischen, aber freundlichen Weltreisenden und Malers, rührt an die gut zugeschüttete Erinnerung der Dinge, die im Krieg passiert sind.

Misstrauen gegen alles Fremde

Es ist klar, dass der Zweite Weltkrieg gemeint ist und die monströsen, hohläugigen Soldaten die Nazis darstellen, doch all dies lässt Larcenet unbenannt: Es kommt nicht eine Jahreszahl vor, keine geografische Bezeichnung, keine Begriffe wie Nationalsozialismus oder KZ. Durch die Anonymisierung unterstreicht der Comic die Überzeitlichkeit seiner Themen: Im Roman ist Brodeck Jude, im Comic reicht es schon, dass er nicht im Dorf geboren wurde, um verraten zu werden. Wenn man es nicht durch den Roman wüsste, könnte man nicht bestimmen, dass sich das Dorf im deutsch-französischen Grenzgebiet befindet, vielleicht im Elsass; im Comic könnte es ein beliebiger Ort in Mitteleuropa sein.

Das Cover des besprochenen Buches.
Das Cover des besprochenen Buches.
© Reprodukt

Dies spiegelt das Selbstverständnis der Dorfbewohner wider: Es gibt kein Außen, kein Land, kein politisches System, keine Zeit – nur Wildnis. Man fühlt sich der Gemeinschaft der Menschen nicht mehr zugehörig, das Misstrauen gegen alles Fremde ist tief eingesunken. Die Erinnerung, die sowohl Brodeck als auch der „Andere“ darstellen, wird zu einer existenziellen Bedrohung, und das Vergessen zu einem unheimlichen, tödlichen Prozess. Selbst Brodeck ist nicht frei von diesem Misstrauen: Er meidet Menschenmengen, denn er weiß, wozu sie fähig sind. „Die Masse ist ein riesiger, fester Leib, geformt aus tausenden vernunftbegabter Wesen“, schreibt Brodeck. „Es gibt keine glückliche und friedliche Masse.“

Leben ist die einzig siegreiche Moral

All dies erzählt Larcenet in ruhigen, kraftvollen Schwarz-Weiß-Bildern, von denen die wortlosen am längsten nachwirken: Die Schraffuren der endlosen Berge und Wälder gehen nahtlos über in die zerfurchten Gesichter der Dorfbewohner, die immer mehr zu einer eigenen Seelenlandschaft voller Untiefen und dunkler Schluchten werden. Heimlicher Hauptdarsteller des Comics ist die Natur. Immer wieder sind Vögel, Wiesel oder Füchse stumme Zeugen des Dramas, das sich schleichend rund um die Menschen ereignet.

Auch Verweise auf die Tierwelt ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte: Der deutsche Kommandant erzählt den Dorfbewohnern von Schmetterlingen, die als Gruppe einzelne Schmetterlinge einer anderen Art anlocken und damit den Vögeln zum Fraß vorwerfen. „Das Leben ist die einzige siegreiche Moral“, befindet der Offizier. „Wer tot ist, hat immer unrecht.“ An einer anderen Stelle rät Bürgermeister Orschwir Brodeck, es wie die Schweine zu machen, die er züchtet: Fressen, nicht an morgen denken, nicht an gestern. „Meinst du nicht, dass sie es richtig machen?“, fragt Orschwir, der es genauso hält. Doch die Tiere sind die einzig Unschuldigen hier.

„Brodecks Bericht“ ist Larcenets erste Adaption, und sie zeigt erneut, dass er zu den besten und vielseitigsten Comic-Künstlern Frankreichs gehört, der locker-leichte Fantasy-Parodien („Donjon“) ebenso beherrscht wie berührende Geschichten über das Heranwachsen („Der alltägliche Kampf“), die in der Gegenwart spielen.

Bildsprache von atmosphärischer Dichte

Larcenet, der inhaltlich und grafisch bereits mit „Blast“ düstere Pfade beschritten hatte, erhöht bei „Brodecks Bericht“ den Realismus noch einmal: Mit seinen fast naturalistischen Zeichnungen findet er zu einer Bildsprache von enormer atmosphärischer Dichte, die durch das Querformat besonders gut zur Geltung kommt. Larcenet nimmt sich viel Zeit, um in stillen Beobachtungen und Detailaufnahmen von Gesichtern, Gegenständen und Landschaften das Ungeheuerliche anzudeuten, über das niemand sprechen will. Damit ist ihm eine Großtat in der größten Kunst des Comics gelungen: dem Erzählen ohne Worte.

Manu Larcenet: „Brodecks Bericht“, Reprodukt, 328 Seiten, aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, Lettering Dirk Rehm, 39 Euro.

Erik Wenk

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