Manu Larcenet: "Der alltägliche Kampf" - und ich
"Der alltägliche Kampf" gilt als einer der besten Comics der letzten Jahre. Für Peer Göbel ist Manu Larcenets Meisterwerk mehr als nur eine Erzählung - er weiß sogar, wie die Figuren klingen.
Den ersten Band der Serie habe ich über 30 Mal gelesen. Ungelogen. Oder mir vorlesen lassen. Im Gegensatz zu anderen Comics weiß ich beim "alltäglichen Kampf", wie die Figuren sprechen, und ich habe sogar einen eigenen Soundtrack zu der Geschichte im Kopf. Ich kenne die filmischen Einstellungen des Zeichners, seinen Humor, seine Lieblingsperspektiven – wie die, nach einer wichtigen Äußerung in einem Dialog ein stummes Panel folgen zu lassen, bei der eine der Figuren im Vordergrund große Augen bekommt.
Anfang 2006 haben wir den ersten Band als Comiclesung aufgeführt. Die Bilder wurden groß an die Wand geworfen, die Sprechblasen in verteilten Rollen gelesen. Soundeffekte kamen vom Band, Mitglieder der Elektro-Formation ampl:tude entwarfen einen Soundtrack und spielten ihn live zur Lesung. Das ganze wirkte also mehr wie ein Live-Hörspiel gekreuzt mit Diashow und Konzert - ein filmisches Erlebnis, das wir meist in Kinos oder auch Clubs aufgeführt haben. Auch beim Comicsalon Erlangen hatten wir einen Auftritt - bei dem Ralf König nach zehn Minuten das Theater verließ. Als erklärtem Fan vom "alltäglichen Kampf" entsprachen unsere Synchronstimmen nicht der Vorstellung, die er von den Figuren hatte. Eine Fan-Sache eben.
Wie Nachhausekommen
Wer einen Comic so oft liest, entwickelt zwangsläufig eine Verbindung zu ihm. Auch beim Lesen der späteren Bände fallen die Parallelen auf, die wiederkehrenden Stilmittel - der Klang im Kopf. Wenn der Fotograf Marco seine inneren Monologe führt, höre ich die Stimme von Tobi, im Hintergrund klingt Lofi-Elektro – städtische Musik mit organischen alten Synthies auf die Provinz übertragen. Wenn Emilie von Marco verlangt, er solle sich endlich mal locker machen, höre ich die Stimme dieser tollen Frau, mit der ich mal vor acht Jahren zusammen war. Und Marcos Vater und seine Kollegen von der Werft sprechen mit leicht nordischem Akzent, wie Freddy das gemacht hat. Ein wenig ist Larcenet-Lesen also wie Nachhausekommen.
Die Handlung der vier Bände ist tatsächlich eine sehr alltägliche. Marco, ein Fotograf, vielleicht Ende 20, zieht aufs Land, weil er "einfach keine Lust" mehr hat, für Kriegsberichterstattung um die Welt zu reisen. Über seinen Kater Adolf (der so heißt, weil er so kratzbürstig ist) lernt er die Tierärztin Emilie kennen. Seine Eltern, die er so selten besucht wie möglich, wünschen sich, dass er sich wieder einen festen Job sucht. Sein Psychoanalytiker hilft ihm mit seinen Angstattacken nicht wirklich weiter. Mit seinem Bruder Georges zockt er gerne Playstation und raucht "Monstertüten". So eine Geschichte eben.
Der erste Band dreht sich um Marcos Freundschaft zu dem alten Mesribes, der vierzig Jahre zuvor in Algerien ein grausamer französischer Besatzer war. Als Marco das erfährt, bricht er den Kontakt ab. Im zweiten Band beginnt Marco eine Fotoserie über die Werft in seiner Heimatstadt, und er erfährt, dass sein Vater Alzheimer hat. Im dritten Band versucht er, Eulen zu zähmen und mehr über seinen Vater herauszufinden.
Nasen länger, Konturen schraffierter
Ich bin sicher nicht der Fotograf, der aufs Land zieht, weil er keine Lust mehr auf die Kriegsberichterstattung hat, der seine Panikattacken durch Psychoanalyse behandeln will. Aber die Themen sind meine. Die Suche nach einem eigenen Ort, dieses Manövrieren zwischen Freiheit und Sicherheit, die Vorbehalte gegenüber den Vorstellungen von außen - der banale, alltägliche Kampf also.
Und jetzt kommt der vierte Band, "Gewissheiten". Der Stil Larcenets ist im Verlauf der Reihe immer rauer geworden. Im ersten Teil dominiert eine fast klassische Ligne claire, in den folgenden Bänden werden die Nasen länger, die Konturen schraffierter, zittriger. Im vierten Band drohen die Zeichnungen an manchen Stellen fast auseinander zu fallen, so skizzenhaft sind sie. Aber gleichzeitig umso genauer.
Die Handlung setzt fünf Jahre nach dem dritten Teil ein. Emilie und Marco haben eine Tochter, um die sich viel in ihrem Leben dreht. Der abschließende Band schlägt Bögen zu den früheren, kehrt an die Orte zurück. Ich kenne den weißen Kleinwagen, wie er vor dem elterlichen Haus an der Küste steht. Ich kenne den Frachter auf dem nächtlichen Meer. Ich kenne die Wiese, wo das Picknick stattfindet.
Das Finale - ein siebenseitiges Saufgespräch
Die sorgfältig vorbereiteten, aber überraschenden Höhepunkte der drei Vorgänger, bei denen es um Leben und Tod ging, kann das Finale des vierten Bandes nicht übertreffen. Die Kernpassage ist hier ein besoffen-philosophisches nächtliches Politikgespräch nach dem Wahlerfolg von Nicolas Sarkozy, das sich über sieben Seiten hinzieht. Für einen Schlussband ist das zunächst enttäuschend, denn es bleiben einige Fragen offen.
Die größte Leerstelle ist Marcos Bruder, dessen Entwicklung vollkommen der Fantasie der Leser überlassen bleibt. Zwei Andeutungen lassen vermuten, er habe Freundin und Kind sitzen lassen, aber Gewissheit erhält man nicht. Die Aussöhnung mit dem alten Mesribes ist kein Thema mehr, Marcos Angstattacken scheinen gleichfalls ganz verschwunden zu sein. Neben die Enttäuschung tritt aber auch die Ahnung, dass eine so genaue und echte Komposition nur schwerlich mit einem Happy End schließen und alle Stränge zusammen führen könnte.
Denn seien wir ehrlich: Die besten Geschichten sind die, die Fragen offen lassen. Vielleicht ist es auch wahrer, weil näher an der eigenen Alltagserfahrung dran: mehr Fragen als Antworten. "Gewissheiten" schließt eine Geschichte offen ab, die so banal wie besonders ist: eine Geschichte vom Tod und von neuem Leben, von der Vergänglichkeit und der Hoffnung – und dem ganzen Rest, den man mit sich selbst und anderen abmachen muss.
Peer Göbel
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