Mariss Jansons dirigiert die Berliner Philharmoniker: Dankbarkeit und blindes Vertrauen
Mariss Jansons wird nicht als Philharmoniker-Chef nach Berlin kommen. Gram spürt man deshalb nicht bei den Philharmonikern - wie das fulminante Konzert vom Samstag beweist.
Naturgemäß ist dies kein normales Konzert. Wobei es so etwas bei Mariss Jansons ohnehin nicht gibt. Selten genug hat er es ans Pult der Berliner Philharmoniker geschafft: dieser hochverehrte Dirigent, der so schwer Nein sagen kann. Doch er muss mit seinen Kräften haushalten. Auch in Berlin fiel ein Konzert wegen Krankheit aus. Nun ist er der letzte Maestro, der ans Philharmoniker-Pult tritt, bevor die Musiker am heutigen Montagvormittag zusammenkommen, um sich auf einen Nachfolger für Simon Rattle zu verständigen. Als erklärter Herzensmusiker und langjähriger Vertrauter des Orchesters kommt auch Jansons infrage. Einige sehen in ihm zurzeit den einzig würdigen Chef für die Philharmoniker, obwohl er bei Dienstbeginn 2018 bereits 75 Jahre alt wäre.
Doch seit Freitag müssen Jansons-Fans umdenken. Inmitten der Proben mit den Philharmonikern gab der Bayerische Rundfunk bekannt, dass Jansons seinen Vertrag als Chef des BR-Symphonieorchesters um drei Jahre bis 2021 verlängert. Und das, obwohl er sich als Vorkämpfer eines neuen Konzertsaals an der Isar von den Politikern verraten fühlt. In seinem Zorn hätte eine Chance für Berlin liegen können. Doch der Maestro ahnt wohl: Negative Gefühle sind keine gute Basis für eine neue Bindung. Zumal er ein ausdauernder Ringer ist und aktuell wieder Hoffnung schöpft, doch noch ans Ziel, ein Saal für sein Orchester, zu gelangen. Die Münchner Musiker hätten ihn verdient: Unter Mariss Jansons zeigen sie seit 2002, dass sie zur Weltspitze gehören.
Es ist also weniger das letzte Konzert vor der Philharmoniker-Wahl als das erste nach Jansons’ Absage. Gram sind ihm die Berliner nicht, man spürt es. Intensiv wandern Blicke, niemand senkt die Augen. In Dankbarkeit wird aufgenommen, was Jansons anbietet. Von Demut zu sprechen, wäre zu hoch gegriffen. Sie stellt sich bei den stolzen Philharmonikern nur äußerst selten ein. Aber so von ganz innen aufsteigend hat man den Beginn von Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ noch nicht gehört.
Jansons hat eine Dramaturgie erdacht, die das Podium nach und nach bis zum Bersten füllt. Auf Bartók folgt das 2. Violinkonzert von Schostakowitsch, das man so tief ausgehört viel häufiger bei den Philharmonikern erleben möchte (bisher nur vier Mal überhaupt aufgeführt!). Mit Solist Frank Peter Zimmermann verbindet Jansons blindes Vertrauen, und der Geiger dankt es ihm reich mit seinem fulminanten Vergegenwärtigungston. Nach durchlittener Bitternis dann ein Klangbad mit der 2. Daphnis-et- Chloé-Suite von Ravel: allerfeinster Philharmoniker-Stoff, herrlich schillernd, ohne dabei von Jansons überraffiniert aufgefächert zu sein.
Heute also wird gewählt: Nach Jansons’ Entscheidung für München könnte es auf eine Konfrontation zwischen Anhängern von Christian Thielemann und Andris Nelsons hinauslaufen. Wer wird die überzeugenderen Argumente einbringen? Wird es nötig sein, sich auf einen Dritten zu verständigen, um die Einheit des Orchesters nicht zu gefährden? Das könnte Riccardo Chailly sein. Am Nachmittag will sich das Orchester erklären, einen Namen präsentieren. Bis dahin stehen den Musikern aufregende, die Bindekräfte der Harmonie auslotende Stunden bevor. Wie sagt es Simon Rattle unnachahmlich: „Das Leben ist keine Generalprobe!“