Netflix-Debüt der Coen-Brüder: Da steht ein Pferd in der Flur
"Die Ballade von Buster Scruggs": Die Brüder Ethan und Joel Coen erweisen sich in einem sechsteiligen Netflix-Western als sattelfest.
Der erste Superheld des Kinos saß auf einem Pferd. Er schwang das Lasso, schoss aus der Hüfte, und wenn er noch einen draufsetzte, dann sang er dazu. Die rohe Gewalt des Revolvermannes verband sich in ihm mit der Poesie der Prärie. Warum sollte einer wie er nicht Buster Scruggs heißen, weiße Klamotten und einen weißen Cowboy-Hut tragen, auf einem Schimmel sitzend durch das Monument Valley reiten und dabei, eine Gitarre vor der Brust, vom „kühlen Wasser“ trällern?
Sicher, es wäre eine einzige Übertreibung. Aber im Kino der Brüder Ethan und Joel Coen geht es nun mal um neurotische Fantasien, um jene Mythen der Leinwand, die sich früh in unschuldige Kinderhirne fressen und mit den Jahren ein skurriles Eigenleben entwickeln. Der Legenden in ihrem Kopf erwehren sich die beiden amerikanischen Filmemacher immer wieder mal mit furiosen Dekonstruktionen. Sei es, dass sie die Ästhetik des Mafia-Films („Millers Crossing“) sezieren oder die des Flucht-Dramas („O Brother, Where Art Thou?“). Auch einen Western haben sie schon gedreht, das Remake des John-Wayne-Klassikers „True Grit“.
Jede Episode beginnt mit einem tollen ersten Satz
Mit der „Ballade von Buster Scruggs“ hat Netflix ihnen nun ein Epos ermöglicht, das sechs Westernfilme in einem vereint. Besteht es doch aus Episoden, die in Stil, Ton und Thematik höchst unterschiedlich ausfallen und auf Kurzgeschichten zurückgehen, die die Coens in den vergangenen neun Jahren geschrieben haben. Jede beginnt mit einem tollen ersten Satz und endet mit einem nicht minder guten letzten und leuchtet jeweils ein typisches Erzählmuster des Genres aus. Ende August wurde der Film in Venedig erstmals präsentiert, ab dem heutigen Freitag ist er auf Netflix zu sehen.
Da ist der Bankräuber (James Franco), der zweimal gehängt wird, da ist der Goldschürfer (Tom Waits), der in einem einsamen Tal auf den Reichtum seines Lebens stößt. Es wird die Geschichte eines Siedlertrecks erzählt, und wie sich fünf Reisende in einer Postkutsche mit Geistergeschichten die Zeit vertreiben, bis sie schließlich so verängstigt sind, dass sie das Hotel, in dem sie nächtigen sollen, nicht mehr zu betreten wagen.
Liam Neeson spielt einen scheiternden Glücksritter
Und da ist der singende Pistolero, dessen Geschichte mit dem schönen Satz beginnt: „Niemand hörte es, aber das Lied des einsamen Reiters wurde in der klaren Morgenluft weit fortgetragen.“ Scruggs ist eitel, großspurig und verschlagen, eine Musical-Gestalt, die sich direkt an das Kinopublikum wendet und so herauszutreten scheint aus dem Mythos. Der ist in dem Moment bloße Farce. Aber es gibt eben immer einen Revolvermann, der noch schneller, noch verschlagener ist.
Am traurigsten in dieser Reihe voller scheiternder Glücksritter ist die Episode über einen Schausteller (Liam Neeson), der in jedem noch so verlassenen Nest eine winzige Bühne aus seinem Planwagen klappt, um auf ihr einen Jüngling ohne Arme und Beine pathetische Texte vortragen zu lassen. Auf ein Stichwort hin lässt der Schausteller den Hut rumgehen, es sind jedes Mal weniger Münzen drin. Am Ende wird er die unglückselige Figur, die er füttert und auf seinem Rücken trägt, gegen ein Huhn eintauschen, weil es die größere Attraktion darstellt. Die Brutalität, mit der sich der Schausteller des verkrüppelten Geschöpfs in seiner Obhut entledigt, steht überhaupt nicht im Gegensatz zu der Güte, mit der er sich kümmert. Die Fürsorge gilt einer Einnahmequelle.
Dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Logik des Kapitalismus und des Westerns gibt, und dass er in seiner klassischen Form von der Zivilisierung Amerikas berichtet, ist oft gesagt worden. Ethan und Joel Coen entwickeln daraus eine Meta-Dramaturgie, bei der sich niemand sicher fühlen kann. Vielleicht singen die Leute deshalb ständig Lieder. Wer singt, hat keine Angst, ein alter Trick.
Schräges Personal, ironische Fallstricke, listige Dialoge
Bis in die Landschaft hinein ist alles überzeichnet. Auch sie folgt ikonografischen Mustern. Von den Felsformationen ausgewaschener Canyons über staubige Steppen oder idyllische Täler bis zu den Ebenen des weiten Landes, das sich in Wellen wie ein Ozean ausbreitet. „Interessant sind Landschaften“, sagt Joel Coen in einem „Zeit“-Interview, „die den Menschen nicht brauchen.“ Was die Härte des Blicks erklärt, mit der die Coens die in diese prächtigen Horizonte geworfenen Menschen beobachten. Trotz aller Klischees und Kulissen sind da Wahrheiten hinter dem Western-Mythos zu entdecken, die nicht trügerisch sind. An die möchte man glauben.
Es macht großen Spaß, sich auf „The Ballad of Buster Scruggs“ einzulassen. Auf sein schräges Personal, seine ironischen Fallstricke, seine unvermittelte Gewalt und listigen Dialoge. Nicht nur, dass einem Figuren wie das einsame Siedlermädchen (Zoe Kazan) ans Herz wachsen, das nach dem Tod des Bruders völlig mittellos dasteht und von einem Cowboy ungelenk umworben wird. Auch wie hier mal die Sprache des Italo-Westerns, mal des realistischen Spät-Westerns, aber auch die Künstlichkeit von Polanskis „Tanz der Vampire“ nachgeahmt wird, ist klasse.
Aber das Vergnügen hat auch eine deprimierende Seite. Wie bei allen Coen-Filmen. Man fühlt sich wie der Bankräuber, der mehr oder weniger zufällig am Galgen endet. Das Letzte, was er sieht, ist ein hübsches Mädchen unter den Schaulustigen, das ihm zulächelt. Wenn der Himmel nicht so sei wie in den Liedern, die ihn besingen, heißt es einmal, warum gebe es sie dann überhaupt.
Kai Müller