Soziologin mit dem Zeichenstift: Comiczeichnerin Claire Bretécher gestorben
Claire Bretécher ist gestorben. Vor vier Jahren wurde die Zeichnerin in Deutschland für ihr Werk geehrt. Wir dokumentieren aus aktuellem Anlass die Begründung.
Mit Comics über Mädchen und Frauen wie „Agrippina“ und „Die Frustrierten“ wurde Claire Bretécher bekannt - nun ist die beliebte französische Autorin und Zeichnerin mit 79 Jahren gestorben. „Ihr Humor und ihr freier Geist waren unermesslich“, erklärte ihr Verlag am Dienstag in Paris. „Ihren Lesern wird beides fehlen.“
Besonders mit ihrer pubertierenden Heldin Agrippina wurde Bretécher bekannt: In Deutschland erschienen die Bände erstmals 1988. Mit Knollennase und ständig schlechter Laune kämpften sich Agrippina und ihre Freundin Bergère durchs Leben und durch ihre erwachende weibliche Sexualität. Mit ihrem bösen Humor und ihrer Freizügigkeit beeinflusste Bretécher auch deutsche Cartoonisten und Comiczeichner wie Franziska Becker („Feminax und Walkürax“) und Ralf König („Der bewegte Mann“).
Ihre ersten Zeichnungen veröffentlichte die am 17. April 1940 in Nantes geborene Bretécher ab den 70er Jahren. Sie wurden unter anderem in der Zeitschrift „Le Nouvel Observateur“ abgedruckt. Insgesamt brachte sie rund 30 Comicalben heraus. „Ich spreche darin eigentlich immer von mir selbst“, erklärte die Tochter aus bürgerlichem Hause. „Meine Figuren machen sich oft über meine eigenen Verirrungen lustig.“ (AFP)
Vor vier Jahren wurde Bretécher beim Internationalen Comic-Salon Erlangen mit dem Max-und-Moritz-Preis für ihr Lebenswerk geehrt. Wir dokumentieren im Folgenden die Begründung der Jury, verfasst von Brigitte Helbling:
„Das ist doch wirklich Unsinn“, sagte Claire Bretécher vor einigen Jahren im Interview, als die Rede auf den Philosophen Roland Barthes kam, der sie einst die „wichtigste Soziologin Frankreichs“ nannte. Die
Interviewerin hakte nach. Sie beobachte nicht, erklärte Bretécher, ihre gezeichneten Geschichten kämen aus ihrem sozialen Umfeld, und handelten mehr oder weniger von ihr selbst. Erst hinterher stelle sich
dann heraus, dass eine ganze Menge Leute ihre Ansichten teilten. – Bretécher wirkt, noch Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ersten „Frustrierten“-Comics, über diesen Umstand einigermaßen überrascht.
Wenn der Max-und-Moritz-Preis für ein herausragendes Lebenswerk in diesem Jahr an Claire Bretécher geht, dann wird damit eine Künstlerin geehrt, deren Einfluss, spätestens seit ihrem endgültigen Durchbruch
1973, gar nicht überschätzt werden kann. Wer alt genug dafür ist, kann sich noch an die Bombe erinnern, die die urbanen Plapper-Szenarien aus Frankreich im deutschsprachigen Raum war (eine erste,
gute Übersetzung erschien 1978 beim Rowohlt Verlag). Permanent unterspannte Frauen (und Männer) fläzten sich im Tuschestrich auf Sofas und Betten, hockten im Bistro, verhandelten Revolution und Rohrzucker,
Religion und Menstruation und zu enge Hosen. Weinflasche und Zigaretten lagen griffbereit, der Kippschalter zur Hysterie war ebenfalls nie weit.
Die „linke Elite“ nannte man diese Kreise damals, heute würde man „Bobo“ dazu sagen. Allein die Art, wie diese Figuren in Kissen versanken oder ihre Beine dreifach ineinander verschlangen und dabei redeten und redeten! Erfrischend hässlich waren sie auch. Schlabberpulli, Augenringe, Hüftspeck, Schlappen ... Und nie stimmte das, was sie wollten und glaubten, mit dem überein, was sie tatsächlich lebten. Daraus ergaben sich der Humor, die Pointen, die Melancholie auch, die bei jedem überragenden Komiker mitschwingen.
Man muss von der Zeit reden, in der Bretéchers Alltagsstorys in unsere deutschsprachigen Leselandschaften platzten. Comics waren damals Cowboys und Raumfahrer, Micky Maus, das Zack-Magazin, die
streng gehüteten Asterix-Alben der älteren Cousins ... ein paar Cartoonisten, der eine oder andere Zeitungsstrip mit klar beschränktem Horizont. „Die Frustrierten“ mit ihrem weichen Strich, ihrer thematischen
Unerschrockenheit und pietätlosem Witz landeten in dieser Abenteuerwelt wie ein Samengeschoss von einem anderen Stern. Um sie herum sprossen bald viele ähnliche Gewächse, von Franziska Becker und
Frida Bünzli bis Geneviève Castrée. Bretécher sei, meinte jüngst Catherine Meurisse von „Charlie Hebdo“, weiterhin ein „unterschwelliger Einfluss“ – selbst Zeichner, die ihre Arbeit nicht kennen, zeigten
Spuren ihres Schaffens im zweiten oder dritten Grad.
Denn es gab ja im Anfang nur sie. Das Mädchen aus Nantes, geboren 1940 in eine bürgerlich-katholische Familie, bekam mit 15 vom Vater gesagt: „Wenn du erst einen Chef hast, dann wird er dich schon zurechtstutzen!“ Damals nahm sie sich vor, dass sie ihr eigener Chef bleiben würde. In Paris, nach der Ausbildung als Zeichenlehrerin, öffnete ihr René Goscinny die Tür zu einer Comic-Welt, die mit den Magazinen „Spirou“, „Tintin“, und „Pilote“ im Umbruch war – und entließ sie einige Jahre später mit der Bitte, wiederzukommen, wenn sie besser zeichnen könne.
Mit Kollegen Marcel Gotlieb alias Gotlib und Nikita Mandryka entstand 1972 „L’Echo des Savanes“ („Gotlib wollte Schwänze zeichnen und Mandryka hatte eigene Anliegen. Für mich gab es keinen Grund, dabei zu sein, aber es klang unterhaltsam.“). Elf Ausgaben des einflussreichen Underground-Magazins verantwortete sie mit, bevor sie 1973 überraschend zu „Le Nouvel Observateur“ wechselte, dessen Redakteur auf der Suche nach frischem Wind war. Auftritt: „Die Frustrierten“, gefolgt von „Die eilige Heilige“, „Die Mütter“, „Monika, das Wunschkind“ und schließlich die vielleicht meist geliebte Figur Bretéchers, die Teenagerin „Agrippina“. Längst war Bretécher ihre eigene Verlegerin geworden (auch in diesem Punkt galt: kein Chef; heute werden die Bücher von Dargaud herausgegeben – auf Deutsch zuletzt von Reprodukt). Neben Sempé kamen ihre Haupteinflüsse vor allem aus den USA: Jules Feiffer, das MAD-Magazin, Johnny Hart.
Und ja, sie war eine Frau, die sich in einer Männerwelt behauptete (nicht schwer, versichert sie, wohlwissend, dass man das nicht von ihr hören will). Ab den „Frustrierten“ – „ich hatte meine Handschrift gefunden“ – bestimmt der weibliche Blick ihre gezeichneten Lebenswelten. Wie ungewöhnlich das war in einer Zeit, in der Frauen im Comic vor allem als kurvenreiche Pappfiguren auftraten! Wie normal das heute geworden ist! Auch das hat Bretécher uns vorgemacht: Dass Frauen wie Männer ganz hervorragendes Material für Helden-, und mehr noch für Antihelden-Geschichten abgeben. Pourquoi pas? Mit einem Comedy-Gespür zum Niederknien: Es wird uns eine Ehre sein, und höchste Zeit, Claire Bretécher den Max-und-Moritz-Preis 2016 für ihr herausragendes Lebenswerk zu verleihen.
Buch-Veröffentlichungen von Claire Bretécher in deutscher Sprache (Auswahl):
– Die Frustrierten. 5 Bände. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1978–1980
– Frühlingserwachen. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1979
– Die kleinen Nervensägen. Verlag Gerhard Stalling. Oldenburg u. a., 1980
– Die eilige Heilige. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1982
– Die Mütter. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1983
– Kopfsalat. 2 Bände. Carlsen Verlag / Edition Comic Art. Hamburg, 1983
– Zellulitis 1. Carlsen Verlag / Edition Comic Art. Hamburg, 1984
– Monika, das Wunschkind. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1985
– Dr. med. Bobo. 2 Bände. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1986–1987
– Beziehungskisten. Cartoons. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main, 1987
– Wenn Männer ihre Tage haben. Comics und Cartoons. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main, 1988
– Agrippina. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1989
– Touristen. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1990
– Agrippina: Allergien. Reprodukt. Berlin, 2009
– Agrippina: Fix und Fertig. Reprodukt. Berlin, 2015
Hinweis: Der Text wurde verfasst von Brigitte Helbling (Journalistin, Arbeitsstelle für Graphische Literatur, Hamburg), Mitglied der Jury des Max-und-Moritz-Preises. Der Jury gehörten 2016 desweiteren an: Christian Gasser (Autor und Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst), Andreas C. Knigge (Journalist und Publizist, Hamburg), Isabel Kreitz (Comic-Zeichnerin, Hamburg), Lars von Törne (Tagesspiegel-Redakteur, Berlin), Christine Vogt (Direktorin der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen) und Bodo Birk (Leiter des Internationalen Comic-Salons Erlangen)
Brigitte Helbling
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