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Deutsch klingen, ohne zu tümeln. Christian Thielemann am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden.
© Matthias Creutziger

Persönlich, ehrlich, klug: Christian Thielemann erzählt seine „Reise zu Beethoven“

Der Dirigent schreibt in seinem neuen Buch über seine Beziehung zum Musikgenie. Und er hält ein leidenschaftliches Plädoyer für Individualität.

„Beethoven“, erklärt Christian Thielmann gleich auf Seite 13, „ist der Orgelpunkt eines jeden Musiklebens“. Johann Sebastian Bach hält er natürlich auch für extrem wichtig, doch der wurde „in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der historisch informierten Aufführungspraxis gekapert – und aus dieser Haft nie mehr ganz entlassen“. Weshalb traditionsverwurzelte Kapellmeister wie er es heute schwer haben, mit ihren Bach-Interpretationen noch einen Blumentopf zu gewinnen.

Beethoven dagegen, findet der Dirigent, gehört weiterhin allen. Jeder darf ihn auf seine Art vereinnahmen, er lässt sich ebenso mit den Blick nach vorne deuten wie mit dem Blick zurück in die Musikgeschichte. Er hält jede Form des Exzentrischen aus und selbstredend auch jedwede politische Deutung.

Der Komponist, dessen 250. Geburtstag die Welt seit Monaten feiert, erzwingt von seinen Exegeten zugleich aber auch den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen: „Er schließt mir die Feinkostabteilung vom KaDeWe auf – und überlässt mich meinem Schicksal. Mein, Problem, wenn ich nicht Maß halten kann.“

Die subjektive Sicht auf das Genie Beethoven macht Thielemanns Buch interessant. Es ist keine weitere Trittbrett-Publikation zum Jubiläumsjahr, sondern eine ehrliche Ich-Erzählung.

Dass der impulsive Maestro das Ordnen seiner Gedanken dabei der „Zeit“-Redakteurin Christine Lemke-Matwey überlassen hat, erweist sich dabei von Vorteil – wie auch schon bei seiner Autobiografie (Christian Thielemann: Meine Reise zu Beethoven. C.H. Beck Verlag, München 2020, 271 Seiten, 22 €).

Es steht alles in den Noten

Für biografische Details interessiert sich Thielemann kaum – alles, was er über diesen Menschen wissen muss, findet er schließlich in den Noten. In historischen Ausgaben selbstverständlich, im auratischen Material mit Patina, das schon durch viele Kapellmeister-Hände gegangen ist.

Die kritisch-wissenschaftliche Neuausgabe der Beethoven-Symphonien von Jonathan del Mar dagegen nutzt der Dirigent lediglich als Vergleichsmaterial. „Mir ist es nie passiert, dass ich im Urtext eine Stelle entdeckt habe, die mir immer schon ein Rätsel war – und plötzlich wusste ich, warum“, bekennt er.

Weil ihn deren ganz auf Funktionalität ausgerichtete Schriftbild nicht inspiriert. Im Gegensatz zu den alten, in aufführungspraktischer Hinsicht oft unzulänglichen Drucken: „Eine Partitur hat Augen, sie schaut dich an.“

Eine unverkrampfte Haltung zum deutschen Klang

Überraschend differenziert liest sich das Kapitel zum traditionellen „deutschen Klang“. Der ist für Thielemann nicht nur „dunkel und schwer“, sondern, im Gegenteil, gerade geprägt durch das Spiel von Schatten und Licht.

Wie ein Y müsse man sich diesen Klang vorstellen: Die Basis ist natürlich Beethoven, die beiden Arme bilden Wagner, der Abgründige, Mysteriöse, und Mendelssohn, der Helle, Brillante. Wer sich als Dirigent zwischen beiden Polen bewegt, kann darum „deutsch klingen ohne zu tümeln“.

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Mit einem auf Darmsaiten gespielten Beethoven werde er sich „nie, nie, nie anfreunden“ können, betont Thielemann. Die „unverkrampfte“ Haltung zum deutschen Klang jedoch, die er bei jüngeren Kollegen wie Andris Nelsons oder Teodor Currentzis beobachtet, mache ihn froh.

Fantasie und Freiheit

Überhaupt ist dieses Buch in erster Linie ein Plädoyer für Individualität. Begeistert berichtet Thielemann von einem Konzerterlebnis mit dem betagten Günter Wand bei den Berliner Philharmonikern: Wie sich das zunächst entspannt zurückgelehnte Publikum während der ersten Takte kollektiv in seinen Sitzen nach vorne bewegte, werde er nie vergessen: „Da passierte etwas, da füllte sich der Raum!“ Eine Atmosphäre war entstanden, die jeden packte.

„Ich möchte mich neu auf Fantasie und Freiheit besinnen“, schreibt er und postuliert: „Das sklavische Befolgen eines Notentextes ist die schlechte Ausrede dafür, keine eigene Meinung zu haben.“

Als Kronzeugen führt er ein weites Vorbild an: „Was mir an Furtwängler so wahnsinnig gefällt, ist die Bereitschaft zum Total-Risiko. Heute sind wir in erster Linie textgläubig. Wir wollen alles richtig machen. Furtwängler wollte das nie.“ Der Interpret sollte sich so verhalten, wie Beethoven das immer tat: keine Kompromisse!

Die Schönheit der Wiederholung

Wobei es nicht um eine intellektuelle Überlegenheit gehe: „Meine künstlerischen Entscheidungen treffe ich letztlich rein gefühlsmäßig“, so Thielemann. „Oft denke ich hinterher, ich hätte es auch anders machen können. Deshalb ist es schön, ein und dasselbe Programm mehrfach zu dirigieren. Und mit dem Repertoire, das einem nahe ist, zu leben.“

So wie die großen Maestri das früher getan hätten. „Warum waren die Alten gerade bei Beethoven so gut? Weil sie sich lebenslang mit ihm auseinandergesetzt haben.“ Und, fügt der bekennende Flugzeug-Muffel hinzu, weil sie nicht ununterbrochen durch die Welt gejettet sind, sondern „mehr oder weniger immer mit denselben Orchestern gearbeitet“ hätten.

Junge Dirigenten sollten sich früh an Beethoven versuchen

Junge Dirigenten, findet Thielemann, sollten sich möglichst früh an den Beethoven-Sinfonien versuchen – und verheben. So sei das auch bei ihm gewesen. Dass er Beethoven lange als „sehr monumental“ empfunden habe, gesteht er ein, war eine Fehleinschätzung, die er erst mit den Jahren korrigieren konnte.

Die Ausdrucksextreme der Partituren aber faszinieren ihn weiterhin, ebenso wie Beethovens Behandlung der tieferen Streicher-Lagen: „Er hat in seiner Musik etwas Erdiges.“

Dass dieser Komponist auf den Schultern der Tradition steht und von diesem erhöhten Standpunkt aus weit in die Zukunft blickt, führt für Thielemann immer wieder auch zur Gretchenfrage: Ist Beethoven nun der Klassiker schlechthin oder nicht doch schon ein Romantiker? Mal neigt er in diese Richtung, mal in jene. Doch es ja hilft alles nichts, er muss sich als Interpret zur Musik verhalten, einen Standpunkt einnehmen und ihn dann verteidigen: „Am Ende gibt es immer nur einen Weg: den eigenen“.

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