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Die mexikanisch-kolumbianische Koproduktion „Mare Nostrum“ von Laura Uribe auf dem Festival Theaterformen.
© Moritz Küstner

Festival Theaterformen in Hannover: Chillen mit Tschechow

Mit viel Interpretationsfuror: Das Festival Theaterformen in Hannover zeigt zeitgenössische Theaterproduktionen, die echt Horizonterweiterung versprechen.

Tschechow hält viel aus. Dass man die Stücke des russischen Dramatikers kaum kaputtmodernisieren kann, hat gerade erst Simon Stone mit seinen heutig überschriebenen Basler „Drei Schwestern“ bewiesen, die ja zum Theatertreffen eingeladen waren. Auch in den Randbezirken Hannovers, in einer ehemaligen Industriehalle, geht es wieder mal darum, die Sehnsüchte der Provinz-Prosorows Olga, Mascha und Irina als uneingeschränkt gegenwartstauglich vorzuführen.

Sechs Performerinnen und Performer in ungezwungener Kleidung lümmeln auf ausrangiertem Mobiliar, dekorieren herumstehende Baugerüste mit Girlanden, spielen Dart, klimpern am Klavier und rauchen. Auch die Zuschauer dürfen sich bei Bedarf eine anstecken, was dem Zeitgeist wiederum munter zuwiderläuft. Jedenfalls ist die allgemeine Stimmung aufs Äußerste unterspannt. Chillen mit Tschechow. Gäbe es nicht ab und zu harten Rock in Stadionlautstärke, könnte man es sich richtig gemütlich machen.

Weshalb die junge slowenische Regisseurin Maruša Kink sich „Drei Schwestern“ vorgenommen hat – zu sehen jetzt als Gastspiel beim Festival Theaterformen in Hannover – beantwortet sie im Programmheft mit der Gegenfrage: „Warum nicht?“ So sieht ihre Inszenierung „Tri Sestre“ auch aus. Der Warum-nicht-Tschechow.

Nicht jede Arbeit passt in jeden Kontext

Die jährlich im Wechsel in Hannover und Braunschweig stattfindenden Theaterformen waren oft Garant für ein ansprechendes internationales Programm. Eben nicht nur mit üblicher Festivalware bestückt, sondern weltweit entdeckungsfreudig unterwegs. Auch für die diesjährige Ausgabe fand Festivalchefin Martine Dennewald Arbeiten, die echte Horizonterweiterung versprechen. Oder zu versprechen scheinen. Wie zum Beispiel „De-Apart-Hate“, eine Choreografie der südafrikanischen Künstlerin Mamela Nyamza, die mit ihrem Tänzer-Kollegen Aphiwe Livi die fragile Gegenwart ihres Landes ausleuchten will, 23 Jahre nach Ende der Apartheid. Über diese bis heute nachhallende Unrechtszeit hält Martine Dennewald eine kundige Einführung, die es auch braucht. Alle Bezüge und Bibelzitate aus „De-Apart-Hate“ mögen für ein südafrikanisches Publikum mühelos andockfähig sein. In Hannover ist dagegen eine Extraportion Interpretationsfuror nötig, um aus dem Duett auf einer kippelnden Regenbogenbank mehr herauszulesen als das Offensichtliche. Zumal ein längerer Monolog in Xhosa improvisiert ist und nicht übertitelt werden kann.

Nicht jede Arbeit passt in jeden Kontext. Was bedauerlich ist, weil Mamela Nyamza ohne Zweifel eine präsente und präzise Tänzerin ist. Die Theaterformen haben dieses Jahr nur Arbeiten von Choreografinnen und Regisseurinnen eingeladen, was gar nicht offensiv thematisiert wird und dadurch ein souveränes Statement ist. Gewöhnlich dominieren ja im Kulturbetrieb Männer als Konfliktexperten. Hier aber lautet das inoffizielle Motto: Frauen an den Krisenherd.

Ein Mix aus Dokumentartheater, Videospektakel und Satire

Eine der verheißungsvollsten Arbeiten dieses Jahrgangs heißt „Mare Nostrum“, stammt von Laura Uribe und ist eine mexikanisch-kolumbianische Koproduktion. Uribe durchleuchtet Flucht als globale und südamerikanische Bewegung – in einem Mix aus Dokumentartheater, Videospektakel und Satire. Was viel erfreulicher ist als die Inszenierung „Portrait Of Myself As My Father“, mit der die Künstlerin Nora Chipaumire aus Simbabwe afrikanische Männlichkeitsbilder betrachtet.

Sie wählt dafür ein schweißtreibendes Boxring-Setting, wirft aber vor allem die Frage auf, ob man schlimme Zerrbilder wirksam zerlegt, indem man sie reproduziert. Einer ihrer armen Kollegen muss zum Beispiel die ganze Zeit über animalisch knurren. Überhaupt versteht man nicht viel, weil fast die ganze Zeit zu nervtötendem Elektrogewummer ins Mikro genuschelt wird. Warum diese Arbeit eingeladen wurde? Die Antwort kann nur lauten: Warum nicht?

noch bis 18. Juni, www.theaterformen.de

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