Berenice Abbott im Martin-Gropius-Bau: "Changing New York": Pulsschlag der Großstadt
Die Wirtschaftskrise trieb Berenice Abbott von ihrem Atelier auf die Straße. Dort entstanden ihre legendären New-York-Fotografien. Jetzt ist eine kleine Auswahl im Martin-Gropius-Bau zu sehen.
Ein einziges Buch machte sie berühmt, ein einziges Buch fasst (beinahe) ihr ganzes Lebenswerk – aber was für ein Buch! „Changing New York“, New York im Wandel, 1939 herausgekommen, ist nicht einfach ein Fotobuch, sondern das Ergebnis mehrjähriger, geduldiger und genauer Beobachtung. Längst hatte sich Berenice Abbott da schon einen Namen gemacht, allerdings unter Insidern, unter Fotografen-Kollegen und Künstlern, und auch bei einer gut situierten Klientel, die in ihr Atelier kamen, um sich ablichten zu lassen.
Ein Atelier, das Abbott im Laufe der Weltwirtschaftskrise 1932 schließen musste. Erst da wandte sie sich der Stadt zu, die sie zu der ihren gemacht hatte, für die sie eine „fantastische Leidenschaft“ empfand. Aus Leidenschaft wurde ein umfangreiches Projekt, das sie mit mehreren Mitarbeitern anging und über drei Jahre mit vollem Einsatz verfolgte, bis es mit der Buchveröffentlichung seinen großartigen Abschluss fand: die Dokumentation des rasanten Wandels, dem New York ungeachtet der Wirtschaftskrise unterlag, ein Wandel, der neben den Holzhäusern von gestern die Wolkenkratzer von morgen in die Höhe schießen ließ.
60 Fotografien von Berenice Abbott (1898–1991) sind jetzt im Martin-Gropius-Bau zu sehen, eine kleine Auswahl aus dem Lebenswerk nur, aber doch eine aussagekräftige Übersicht. Damit stellt Gereon Sievernich bereits die 60. Foto-Ausstellung seiner Amtszeit vor – was gewiss auch dem Mangel an einem wirksamen Ausstellungsetat geschuldet, aber von der Not zu einer Tugend geworden ist. Dass die Fotografie im Berliner Ausstellungskalender einen festen Platz hat, und das rund ums Jahr, ist Sievernich und seinem Talent zu danken, Ausstellungen in Kooperation zu veranstalten und – wo möglich – nach Berlin zu übernehmen.
Sie lernte bei Man Ray in Paris - und fand ihre Bestimmung im Schatten der Großbauten von Manhattan
So auch hier. Das Pariser Foto-Haus Jeu de Paume unweit des Louvre hatte 2015 eine Abbott-Retrospektive veranstaltet, deren Kernbestand nun eben im Gropius-Bau zu sehen ist. Die New Yorker Aufnahmen bilden mit 40 Abzügen das Schwergewicht, daneben sind 17 Porträts zu sehen sowie elf Aufnahmen aus der späteren, jahrzehntelangen Tätigkeit Abbotts als Wissenschaftsfotografin; dazwischen finden sich noch eine gute Handvoll Arbeiten aus der Zeit dazwischen, als Abbott mit ihrer Lebens- und Arbeitspartnerin, der Publizistin Elisabeth McCausland, in Florida den eher glücklosen Versuch machte, nach dem Vorbild eines Walker Evans die „amerikanische Szene“ zu erkunden.
Überwiegend handelt es sich bei den gezeigten Fotografien um späte Abzüge des Jahres 1979 und dies in ganz unterschiedlichen Formaten. Ein Segen, denn statt monotoner Reihung kommt Dynamik zustande im Wechsel von Klein- zu Großformat, lassen sich an weit gespannten Kompositionen wie der berühmten Nachtaufnahme der beleuchteten Bürohäuser von 1932 Details ausmachen, die in einer Buchpublikation nahezu verborgen bleiben. „Changing New York“ ist 1997 neu aufgelegt worden, als das Stadtmuseum von New York, das die Negative hütet, eine umfassende Ausstellung zeigte, und daraufhin kam auch in Deutschland eine opulente Ausgabe bei Schirmer/Mosel heraus.
Berenice Abbott, in Ohio in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, kam 1918 nach New York, wollte Künstlerin werden und ging drei Jahre später, wie so viele ihrer Generation, nach Paris, wo Kunst allgegenwärtig und das Leben mit Dollars höchst preiswert war. Eher zufällig wurde sie bald darauf Assistentin von Man Ray, der mit seinen Porträtfotos eine Größe des Pariser Betriebs war, und als Autodidaktin eignete sie sich die Fotografie an, mit der sie bald zu eigenen Aufträgen kam. Berühmt wurde dann ihre Wiederentdeckung des vergessenen Eugène Atget, des Chronisten des Vieux Paris, der alten, von der Moderne überrollten Stadt. 1927 traf sie ihn an und konnte ihn in ihrem Studio fotografieren – gebeugt sitzt er da, alt geworden unter der Last des Umbruchs, den er als Beobachter des Unscheinbaren und Zufälligen festgehalten hatte. Abbott konnte, finanziell unterstützt, den riesigen Schatz von 1400 Glasnegativen und 7800 Abzügen Atgets erwerben und bei ihrer Rückkehr nach New York mitnehmen; er gehört heute dem Museum of Modern Art.
An Atget schulte Abbott ihr Auge, und so entwickelte sie das Vorhaben, New York im Wandel zu dokumentieren, das sie im Rahmen der Maßnahmen des New Deal gegen mancherlei Hindernisse verwirklichen konnte. Rund 700 (nachgewiesene) Aufnahmen entstanden, aus denen für die Buchveröffentlichung 305 ausgewählt wurden; McCausland, die die Fotografin als ihre glühende Bewunderin kennengelernt hatte, verfasste die Bildtexte. Abbott hatte eine 30 Kilogramm schwere Ausrüstung zu bewegen, als Herzstück eine Plattenkamera im Format 18 x 24 Zentimeter, wie sie sie bereits aus Paris kannte, mit der sie Hochhäuser aus der Frosch- und Straßen von oben aus der Vogelperspektive aufnahm, Holzhäuser und Lagerschuppen an den damals geschäftigen Piers, Wohnhäuser des 19. Jahrhunderts, die dem Wachstum der Bürobauten im Weg standen, Hochbahnen und Baugerüste, Ladenlokale in ärmlichen Gegenden, aber nie die Armen und Ausgestoßenen, denen gegenüber sie Zurückhaltung wahrte.
Überhaupt stellte Abbott nicht die Menschen in den Mittelpunkt, wie etwa Lewis Hine, der 1932 mit dem Foto-Tagebuch „Men at Work“ das Hohelied amerikanischer Schaffenskraft gesungen hatte. Andererseits blieb sie nicht kühl-distanziert wie Alfred Stieglitz, der Altmeister der amerikanischen Fotografie, der in den 1930er Jahren den Hochhausbau von seinem Apartment aus wie ein Architekt vermaß. Abbott hielt ihre „Leidenschaft“ im Zaum, aber sie kommt in der Dynamik ihrer Aufnahmen zum Tragen, in der Begeisterung über die Perspektiven, die stürzenden Linien, die Lichter der Nacht. Und der Zuneigung zum Kleinklein des Daseins im Schatten der Großbauten, wie sie auf seine Art und in seiner so ganz anderen Stadt Atget gezeigt hatte.
Frühe Porträts der jungen Abbott in Paris, mit denen die Ausstellung einsetzt, zeigen eine selbstbewusste, unangepasste Frau – das Ideal der zwanziger Jahre. Man denkt an die gleichaltrige Margaret Bourke-White, die unerschrockene Reporterin; oder an Lee Miller, die gerade erst ebenfalls mit einer Ausstellung im Gropius-Bau gewürdigt wurde. Berenice Abbott ging einen anderen Weg, wandte sich ab den 40er Jahren fast ganz der Naturwissenschaft zu, die sie mit ihren Aufnahmen ein wenig besser verständlich machen wollte. Im Alter verließ sie New York, die Stadt, der sie ein Denkmal gesetzt hat, so lebendig und pulsierend, als wäre 1939 gerade erst gestern gewesen.
Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, bis 3. Oktober. Katalog voraussichtlich Ende Juli. www.gropiusbau.de
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