Buch "BRD Noir": Bruch in der Idylle
"BRD Noir": Der Historiker Philipp Felsch und der Schriftsteller Frank Witzel schauen in die Abgründe der alten Bundesrepublik.
Man muss sich Philipp Felsch und Frank Witzel vielleicht als Autorenduo vorstellen, das plant, Raymond Chandler nachzueifern (oder noch besser: Jörg Fauser), und einen BRD-Krimi schreiben möchte. Einen Ermittler wie Marlowe oder Harder, Held von Fausers „Schlangenmaul“-Roman, haben sie zwar noch nicht, dafür aber ihre Erinnerungen an die Zeit, als sie Kind waren und heranwuchsen, mit Platten, Büchern, Moden, Filmen und drei Fernsehsendern; der 1955 geborene Schriftsteller und Deutscher-Buchpreisträger Witzel im hessischen Biebrich, nicht weit von Wiesbaden, der 1972 geborene Historiker Felsch im niedersächsischen Nikolausberg, einem auf einer Anhöhe gelegenen bürgerlichen Stadtteil von Göttingen.
Als beide sich auszutauschen beginnen, merken sie, dass allein schon ein Gesprächsband viel hergibt in Sachen „BRD Noir“, wie sie ihr Buch schließlich genannt haben – und so wenden sie die Erzählperspektive des „Noir“ spielerisch- theoretisch auf die alte, 1989/90 mit der Wende untergegangene Bundesrepublik an. Der französische Filmkritiker Nino Frank hatte den Begriff des Noir 1946 geprägt, um damit die Grundstimmung amerikanischer Filme aus den dreißiger und vierziger Jahren zu bezeichnen, vor allem von Kriminalfilmen, in denen ein Privatermittler einem Verbrechen auf die Spur kommt, für das zwar ein Einzelner verantwortlich ist, das aber letztendlich auf den Grund einer kaputten, korrupten Gesellschaft weist. Der amerikanische Traum stellt sich darin als Albtraum dar, und analog zu den Filmen gab es schließlich auch das literarische Genre roman noir, worunter die Romane eines Chandler, eines Dashiell Hammett oder eines Cornell Woolrich fielen, aber auch solche französischer Krimiautoren.
Eduard Zimmermann und Horst Tappert sind paradigmatische Figuren
Und klar, die These von Philipp Felsch und Frank Witzel liegt nahe: Die kaputte BRD-Gesellschaft, das ist die, die ihren Albtraum hinter sich hat, die Nazi-Zeit, den Holocaust, woran so gut wie alle Deutschen beteiligt waren. Nun ist Verdrängung angesagt, es wird nach vorn geschaut, in die Hände gespuckt, die Wirtschaft angekurbelt, ein Wunder vollbracht. So weit, so nachvollziehbar: Die Leichen liegen hier offensichtlich im Keller und warten darauf, gefunden zu werden und das Gruseln zu lehren.
Da erscheinen, wie Philipp Felsch in einem einleitenden Essay darlegt, Fernsehfiguren wie Eduard Zimmermann und Horst Tappert als geradezu paradigmatische und irgendwie unheimliche BRDler. Nicht nur, dass sie, wie Zimmermann, die realen Verbrechen in die gemütlichen, sicheren westdeutschen Vororthäuschen und Villen vermittelten. Oder, wie Tappert als Derrick, in die Abgründe eben dieser Häuschen und Villen in München schauten, nein, mehr noch: „Wer weiß schon“, so Felsch, „dass Zimmermann in der JVA Fuhlsbüttel und später sogar vier Jahre in Bautzen saß?“ Und, in Bezug auf Tapperts posthum bekannt gewordene Waffen-SS-Mitgliedschaft: „Dass der Mann etwas zu verbergen hatte, hätte man, sofern man über einen Fernseher verfügte, vielleicht schon immer an seinem Gesicht ablesen können, das, wie viele westdeutsche Nachkriegsfassaden, einen merkwürdigen Mauve-Ton besaß.“
Philipp Felsch und Frank Witzel schreiten dann munter parlierend die Abgründe der BRD von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren ab. Angefangen bei der Provinz und ihren Idyllen, der BRD als einzige große Provinz und einziges Idyll!, über ihre Mörder und Entführer wie Jürgen Bartsch, Klaus Lehnert und Fritz Honka, die in dieses Idyll einbrechen, bis hin zu Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ und, als extremster Reflex der Vergangenheitsaufarbeitung durch die 68er, zur RAF, die schließlich für die vielzitierte „bleierne“ Zeit der siebziger und frühen achtziger Jahre sorgte.
Es geht hier auch um das wilde, widersprüchliche Denken
Dazu kommen Lektüren: Adornos „Minima Moralia“, die mit Verzögerung für Furore sorgten, insbesondere bei denen, die nicht einverstanden waren mit der Verdrängung und dem positiven Nach-Vorn-Denken der Überflussgesellschaft, und die überdies in Kalifornien, dem klassischen Noir-Land!, geschrieben wurden. Aber auch die Bücher von Hubert Fichte, Rolf Dieter Brinkmann und Jörg Fauser oder die Filme von Rainer Werner Fassbinder.
Vieles von dem, was Felsch und Witzel hier ausbreiten und ins Bild des Noir zu fügen versuchen, bleibt natürlich etwas unscharf, leuchtet nicht immer ein. Ob die damalige Angst vor den Mördern und Triebtätern, die vor allem eine Kindheitsangst ist und mit dem Einbruch in provinzielle Idyllen gleichgesetzt wird (als würden die aktuellen Fälle Elias und Mohammed die Öffentlichkeit nicht in ähnlichem Maß bewegt haben wie seinerzeit die Morde von Bartsch und Honka), ob das Christiane F. als Ikone des Drogen-no-gos ist (hm, hatte dieser Fall nicht auch was von einer Großstadt-Sehnsuchtswelt?). Oder die DDR, in der Noir angeblich nicht funktioniert hat, wegen der Allgegenwart der Staatsmacht als Bedrohung und ausgewiesene Unheimlichkeit und weil hier Gut und Böse allzu klar zu unterscheiden waren, anders als im Westen (was man ja auch umgekehrt sehen könnte, zumal die RAF gleichfalls für ein Aufrüsten der Staatsmacht in der BRD sorgte).
Doch beabsichtigen Felsch und Witzel keine Theorie oder gar eine (womöglich neue) Geschichte der alten Bundesrepublik. Ihre Unschärfen sind gewollt, miteinkalkuliert. Ihnen geht es mehr um das wilde, widersprüchliche Denken, um ein Herstellen von nicht so geläufigen Zusammenhängen, um das Wandern auf ein paar Plateaus. So wie Witzel seinerzeit begeistert war von Theorie, die er zwar nicht immer verstand, die aber allein deshalb schon den Zweck erfüllte, dem eingekastelten Bravbürger-Leben zu entkommen, eben von Texten, „die sich ausprobierten, eher im Sinne Heißenbüttels.“
BRD Noir ist auch Andreas Maier mit seinen Erinnerungsbüchern
Felsch hat mit „Der lange Sommer der Theorie“ ja vor kurzem erst ein stimmiges Buch über die 30 Jahre währende Hipness des nicht immer nachvollziehbaren, aber schön hedonistischen theoretischen Denkens geschrieben, und auch Witzels Buchpreis-Roman „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ dient als Grundlage für diesen BRD-Noir-Soundtrack.
Es überwiegt also hier der Charme, der Spaß an den hin und her mäandernden Erörterungen von Witzel und Felsch. Man freut sich an der Mischung aus Erinnerung und BRD-Noir-Theorie – und fragt sich als gleichfalls BRD-sozialisierter Mensch: War das Leben damals wirklich so grau, so schwarz-weiß, wie es sich bei der Lektüre dieses Bandes darstellt? Galt Grau nicht auch als Farbe der Berliner Republik, die ja zunächst als glamouröses Gegenmodell zum Bonner Biedermeier verstanden wurde, zumindest in ihrer Frühzeit? Ja, waren die siebziger Jahre nicht zuletzt schön bunt, bunter als die Gegenwart? Und in den achtziger Jahren der Spaß nicht am allergrößten? Egal.
Wer jedenfalls die Kayankaya-Romane des 2013 verstorbenen Jakob Arjouni aus den neunziger Jahren kennt, wer Heinz Strunks Honka-„Goldener- Handschuh“-Roman gelesen hat oder auch nur ein einziges „Ortsumgehung“- Erinnerungsbuch von Andreas Maier, dessen Geschichten über Onkel J oder über seine Erlebnisse mit dem „bösen schwarzen Mann“ und den „Hexenhausmännern“ im hessischen Friedberg, der weiß: Philipp Felsch und Frank Witzel sind auf der richtigen Spur. Es ist halt alles eine Frage der Perspektive, der Erzählperspektive zumal. An dem großen BRD- Noir-Roman haben jedenfalls schon eine Menge Autoren geschrieben.
Philipp Felsch, Frank Witzel: BRD Noir. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 174 Seiten, 12 €.
Gerrit Bartels
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