Premiere am Deutschen Theater: Boulevard im Schlafanzug
Zum Heulen kein Grund: René Pollesch und Sophie Rois feiern mit "Cry Baby" ihren Einstand am Deutschen Theater.
Es wirkt alles so anders und doch auch wieder vertraut. Aus den Ruinen der Volksbühne sind Sophie Rois und René Pollesch ans Deutsche Theater gekommen, und sie spielen da weiter, wo sie vor einer kleinen gefühlten Ewigkeit aufhören mussten. Polleschs ephemere Episoden und Etüden sind sowieso weniger an einen spezifischen Theaterheimatort gebunden als Frank Castorfs schwere Tanker mit ihrer Container-Überlast.
Dem Regisseur und Autor Pollesch bekommt der Wechsel nicht schlecht. „Cry Baby“ nennt sich die neue Kreation, aber zum Heulen gibt es keinen Grund. Der mit 75 Minuten gewohnt sehr kurze Abend vertreibt auch ein Stückchen Volksbühnenbitterkeit und präsentiert sich als legeres Vorspiel zu einer Spielzeit am Deutschen Theater, bei dem mit Moritz Rinke, Ex-Berliner-Ensemble-Autor, ein weiterer teurer Transferspieler angeheuert hat. Mit den beiden könnte das DT etwas gewinnen, was ihm in seiner bemühten Ernsthaftigkeit oft abgeht – eine gewisse Leichtigkeit.
Auch Pollesch hat sich locker gemacht. „Cry Baby“ ächzt nicht unter den Theoriepaketen und Diskurskoffern, mit denen er seine Protagonisten sonst gern bepackt. Schon immer ein ins Performative entlaufenes Kind des Boulevard, spielt Pollesch hier Salonkomödie. Auf seine Art. Es sieht aus wie das Negativ eines alten Films, bei dem die Tonspur durcheinandergeraten ist. Die Bühne von Barbara Steiner: ein Boudoir. Vorhänge über Vorhänge. Und ein weiterer Balkon neben dem Balkon, der da immer ist. Theater verdoppelt und verdreht. Das passt wunderbar ins DT: ein bisschen mehr Plüsch und Bürgerlichkeit und Guckkasten. Fiktives 19. Jahrhundert – das ja auch Castorf gern plündert und auflädt. Irgendwie französisch.
Pollesch spielt Salonkomödie
Das Genre des Boulevard hatte immer schon eine Tendenz, sich selbst aus den Angeln zu heben, Tür auf, Tür zu, klippklapp, und ad absurdum zu führen. Pollesch steckt tief in dieser Tradition. Zum Boulevard gehört von jeher auch das Hastige, Geschwätzige; da plappern die Leute aus Angst um ihre bürgerliche Anständigkeit.
Bei Pollesch sind sie dann schon decouvriert, haben den Tumult im Grunde hinter sich. Stecken in Schlafanzügen (Kostüme: Tabea Braun). Sind todmüde nach der Zimmerschlacht. Das Verwirrspiel ist vorüber, und jetzt sieht man backstage die Neben- und Nachwirkungen.
Auftritt Sophie Rois. Aber leise. Sie steuert auf das Bett in der Bühnenmitte zu und will ihre Ruhe. Doch der bunte Mädchenchor – Studentinnen von der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ – legt sich dazwischen. Sind das die Stimmen und Figuren, die eine Diva im Kopf hat? Der von Christine Groß einstudierte Chor spricht klar und hell, er nervt, er unterhält, begleitet und geleitet. Christine Groß steht selbst auf der Bühne, sie bildet mit Judith Hofmann eine Art Geleitschutz für Sophie Rois. Aber das sind bloß fingierte Hierarchien, nichts darf man hier zu ernst nehmen.
Es geht um Karriere, Stars, Verlierer - und um Geld
Was macht Bernd Moss auf dem Balkon? Döst vor sich hin. Beobachtet mit amüsiert-maliziösem Ausdruck das Hinterbühnengarderobenspiel und kommentiert die Show, wie einer aus der Muppet-Truppe. Ein Liebhaber? Der Regisseur? Worum geht es überhaupt?
Schwer zu sagen, leicht zu sehen: um große Rollen, um Stars und Verlierer, Karriere und Knick, um die Unmöglichkeit, das Drama noch zu behaupten (Kleist!), um Laien und Theaterleidenschaft, um Geld; das kommt bei Pollesch immer vor. Einmal marschiert der Chor als Erschießungskommando auf, sieht aber nach einer Diskussion mit der Hauptdarstellerin von der Exekution ab. Sophie Rois und Bernd Moss stürzen sich in ein Fechtduell, das sieht sehr komisch aus. Blank ziehen im Pyjama, im Schlafzimmer die Klinge kreuzen – Boulevard aus der nächst höheren Tiefebene. Amouröse Clowns. Das Wort „Liebhabertheater“ hat viele Bedeutungen und Implikationen. Immer wieder fallen sie in somnambule Zustände, wird Roy Orbisons untröstlich schönes, warmherziges „Crying“ eingespielt, ein Song wie eine Mini-Oper.
Dieses Theater gleicht einem gut sortierten Medienkaufhaus
Polleschs Boulevard verhält sich zu Labiche und den klassischen Königen der Pariser Unterhaltungskunst ungefähr so wie Roy Orbison zu Puccini. Pollesch-Pop lebt von geliehenen Kräften und Mythen, lädt die Atmosphäre mit Ohrwürmern auf und schnappt sich Zitate, deren Herkunft man erraten darf. War das jetzt aus einem Film von Buñuel und wenn ja, aus welchem? Das Programmheft gibt dezente Hinweise. Letztlich ist es egal. Könnte auch Fassbinder sein oder ein Hollywood- Blockbuster oder irgendein vergessenes Filmwerk, in dem ausbeutbare Energien stecken. Oder ein philosophisches Buch zu Fragen unserer Gesellschaft. Pollesch macht es passend. Sein Theater gleicht einem gut sortierten Medienkaufhaus und hält Überraschungen bereit.
Diesmal also: gute Laune. „Cry Baby“ gibt sich so fröhlich und luftig, dass man noch vor neun Uhr wieder auf dem Theatervorplatz steht und sich den wichtigen Fragen des Saisonbeginns widmet. War das jetzt was? Warst du gestern im Gorki? Was denkst du über das Dauerthema „Dau“? „Cry Baby“ ist aus einem so leichten Stoff gemacht, dass sich das Gespinst in der schon herbstlich kühlen Abendluft sogleich auflöst.
Deutsches Theater, wieder am 13. und 21. September sowie am 5., 11., 17., 25. Oktober 2018
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