Libertines: "Anthems For Doomed Youth": Böser Zwilling, trink mit mir
Glamourös geläutert und mit brüchiger Frische zurück im Leben: Das Libertines-Comeback-Album „Anthems For Doomed Youth“.
So kann man die Wiedervereinigungsgeschichte dieser Rockband natürlich auch erzählen. Im klassischen Pop-Format, drei Minuten und neunundzwanzig Sekunden lang, wie im Video zu der vor zwei Monaten veröffentlichten Libertines-Single „Gunga Din“, der ersten seit einer gefühlten Ewigkeit, zumindest für die hartnäckigen Libertines-Fans, von denen es in England immer noch wahnsinnig viele zu geben scheint, im restlichen Europa und den USA nicht ganz so viele.
Das Video beginnt mit Carl Barât, dem einen der beiden Libertines-Masterminds, wie er sich auf seiner Bude irgendwo in einer thailändischen Großstadt, könnte Bangkok sein, könnte Pattaya sein, zurechtmacht, um auf die Straße zu gehen und was auch immer zu erleben. Kurz darauf ist Pete Doherty zu sehen, der andere Boss der Band. Er wandert schon draußen herum und singt: „Woke up again, too much regret / Getting sick and tired of feeling sick and tired again.“
In der schnöden Wirklichkeit zielstrebig und gewinnorientiert
Sie begegnen sich, zufällig, nicht ganz so zufällig, aber in jedem Fall im höchsten Maße einander zugetan, so, als ob es nie Streit oder Hauereien oder sonst was zwischen ihnen gegeben hätte. Carl Barât stimmt mit in den Gesang ein: „Woke up again to my evil twin / That mirror is fucking ugly and I’m sick and tired of looking at him.“
Irgendwann liegen sie sich mit den zwei anderen Libertines-Musikern in den Armen, Bassist John Hassell und Schlagzeuger Gary Powell, ziehen um die Häuser und wissen: „Oh, the road is long, if you stay strong, you’re a better man than I“. Das klingt nach Einsicht, Besserung, unverbrüchlicher Männerfreundschaft, und mit den ganzen La-La-Las auch nach „Bittersweet Symphony“.
In der schnöden Wirklichkeit ging es bei den Libertines jedoch nicht ganz so poetisch zu, eher zielstrebig, markt- und gewinnorientiert. Drei ausverkaufte Shows im Londoner Hyde Park mit jeweils 50 000 Besuchern und ein paar in Europa, unter anderem in Berlin in der ausverkauften Arena, machten den Anfang. Dann kam die Überlegung, sich vielleicht einmal an neuen Songs zu versuchen, was dazu führte, dass der eine, Carl Barât, den anderen, Pete Doherty, in seiner Entzugsklinik in Thailand besuchte und fünf Songs mit ihm schrieb.
Schließlich mieteten sie, jetzt war wieder Tempo drin, die Karma Sound Studios an, („If James Bond had a recording studio, it would be Karma“, so die Werbung), idyllisch gelegen in dem Fischerdörfchen Bang Saray, unweit von Pattaya an der Ostküste Thailands; und fanden in Jake Gosling (Ed Sheeran, One Direction) einen Erfolgsproduzenten und spielten im April und Mai dieses Jahres das nun an diesem Freitag erscheinende Album „Anthems For Doomed Youth“, das dritte der Band nach „Up The Bracked“ von 2002 und dem Nachfolgealbum „Libertines“ von 2004.
Noch einmal das alte Sex-, Drogen-, Selbstzerstörungsprogramm
So weit die Fakten zu einer Reunion, die in die Zeit passt (machen doch alle!) – und einem Album, das sehr aus der Zeit gefallen und verloren wirkt. Das auf das Libertines-Frühwerk verweist und damit wiederum auf das, was dieses Frühwerk stark beeinflusst hat, Bands wie The Clash, The Kinks, die britischen Beatbands der sechziger Jahre, der Punk. Das aber trotzdem eine schön-brüchige Frische hat. Ja, „Anthems For Doomed Youth“ ist ein Rockalbum von einer britischen Rockband – und die muss man womöglich allein für den Mut bewundern, in Zeiten, da Rock wirklich nicht mehr der allerletzte Schrei ist, schon gar nicht der Rock von vier mitteljungen Männern im klassischen Line-Up, noch einmal mit so etwas Altmodischem aufzuwarten. Vielleicht aber ist es nur der Mut der Verzweiflung – der Verzweiflung darüber, dass selbst die Suche nach der Vene für die tägliche Ladung Heroin nur die Wiederholung des Immergleichen ist, wie der heroinabhängige Pete Doherty in „Gunga Din“ gleichfalls singt.
Andererseits: Doherty und Barât sind sich ihres legendären Status sehr bewusst. Den haben sie sich seinerzeit wacker erarbeitet; zu einer Zeit, als der Rock’n’ Roll mit Bands wie den Strokes, Black Rebel Motorcycle Club, Maxïmo Park oder Arctic Monkeys seine bislang letzte Blüte erlebte. Die Musik, die letztendlich nur allzu bekannt war, spielte dabei nicht die entscheidende Rolle. Es war das ganze popkulturelle Drumherum, das dieser x-ten Rock’n’Roll-Erneuerung zu ihrem Glanz verhalf. Die Libertines taten sich dabei besonders hervor. Nicht nur, weil sie ihre Britishness über die Maßen betonten, sondern weil sie das volle, gleichfalls überholt wirkende Sex-, Drogen-, Selbstzerstörungsprogramm auflegten, immer an der Kante entlangwandelnd, mit vielen Abstürzen, gerade auch nach der schnellen Band-Auflösung.
Das Live-Comeback der Libertines fand schon vor fünf Jahren statt
Während sich das bei dem schönen Carl Barât in Folge eher dezent im Verborgenen abspielte, mit depressiven Phasen, Antriebsarmut und einer erfolglosen Band, den Dirty Pretty Things, agierte der weniger schöne, jedoch ungleich charismatischer wirkende Pete Doherty seine Drogensucht öffentlich aus. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, wann er den großen Rock’n’ Roll-Toten von Jim Morrison und Janis Joplin über Kurt Cobain bis Amy Winehouse nachfolgen würde.
Tat er aber nicht. Der Tod war im Libertines-Programm nicht vorgesehen. Stattdessen spielte Doherty Alben mit seiner neuen Band ein, den Babyshambles, die wie eine Lightversion der Libertines klangen, auch zu einem Soloalbum langte es. Zuletzt sah man ihn in Sylvie Verheydes Film „Confession“, der auf Alfred de Mussets Roman „Bekenntnisse eines jungen Zeitgenossen“ von 1836 beruht und eine ähnlich passionierte Selbstzerstörungsgeschichte wie die von Doherty erzählt.
Nur, was soll einer machen, wenn er wider Erwarten alle Exzesse überlebt, wenn er als Rock’n’Roll-Überlebender in die Jahre kommt? Weiter, immer weiter – und wenn es nur rückwärts auf der Zeitleiste geht. So ein Live-Comback für viel Geld ist das eine, 2010 kamen die Libertines schon einmal für diverse Gigs wieder zusammen. Das andere aber sind neue Songs, die am Ende nicht so viel anders klingen als die alten: Manches Riff, manche Melodie-Linie, manchen Clash- Übersteiger meint man genau so schon gehört zu haben. Zumal mit dem allerdings sehr schönen, pianolastigen „You’re My Waterloo“ ein Song aus dem Fundus der ganz frühen Jahre auf diesem neuen Album gelandet ist.
„Anthems For Doomed Youth“ mag in seiner Gesamtheit etwas reifer, konzentrierter, konziser und weniger verwackelt klingen – doch es ist die alte, charmante, schön verzweifelt anmutende Melancholie, die die meisten der Songs wieder verströmen. Und es sind die alten Geschichten, die die Libertines erzählen: die von Ruhm und Glück, die sich an Londons Straßenkreuzungen zuhauf finden lassen. Die von den Mädchen, auf die man ewig warten muss. Von der Liebe, für die es sich lohnt zu leben, von „lust for companionship, whiskey and song / How could it go wrong?“, inclusive diverser Verweise auf die Vergangenheit, wie in „Fame and Fortune“: „The deal was done / The trade was rough“.
In der Libertines-Welt ist dieses Album sicher das Bestmögliche geworden, ähnlich wie das Blur-Comeback-Album vor einem halben Jahr. Dass es dem Rock neue Facetten abgewinnt, war sowieso nicht zu erwarten, dafür hält es schön die Erinnerung wach daran, wie glamourös dieser Rock einst war, wie viel er zu geben imstande war. Es versteht sich, dass die Libertines keine Rock-Angestellten werden, die alle zwei Jahre ein Album wie dieses produzieren – darauf weist allein der Fortgang der „Gunga- Din“-Videoerzählung hin. Im Verlauf ihres nächtlichen Zuges wirken die vier Herren immer zersauster, betrunkener, kaputter. Von Läuterung keine Spur, die Richtung ist vorgegeben. És müsste wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht bald klappt mit der Rock’n’Roll-Ewigkeit.
„Anthems For Doomed Youth“ erscheint am 11.9. bei Universal. Konzert: 12.9., 21.30 Uhr beim Lollapalooza-Festival auf dem Flughafen Tempelhof.
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