Jennifer Clement: „Gebete für die Vermissten“: Blutiges Mexiko
Ermordete Mädchen, vermisste Studenten: Jennifer Clement spricht in ihrem neuen Roman „Gebete für die Vermissten“.
Man erinnert sich an die Szene aus der amerikanischen Serie „Breaking Bad“, als DEA-Agent Hank Schrader in Mexiko Zeuge wird, wie eine große Schildkröte gemächlich dahergekrochen kommt – einen abgeschlagenen Menschenkopf auf dem Panzer. Da wird ihm sehr flau. Die mexikanischen Polizeikräfte um ihn herum aber lachen sich schlapp: Der hat wohl noch nie eine Schildkröte mit abgetrenntem Schädel darauf gesehen …
So ist das in Mexiko. Literatur, Film oder Fernsehserie vermitteln es in starken Bildern, dass ein Menschenleben im Krieg der Narcos weniger als nichts zählt, die mexikanische Gesellschaft ist extrem brutalisiert. Auch Jennifer Clements Roman „Gebete für die Vermissten“ hat viel Folklore der blutigen Art zu bieten. Der bildkräftig erzählte Roman spielt in der von Kriminalität heimgesuchten Provinz Guerrero, die als „gefährlichste“ Mexikos gilt und in diesen Wochen wegen der dreiundvierzig seit Monaten verschwundenen und höchstwahrscheinlich ermordeten Studenten mal wieder in den Schlagzeilen ist.
An Lokalkolorit mangelt es bei Clement nicht. Eine Schnellstraße mit platt gefahrenen Hunden und Leguanen, Geier in der Luft. Halb fertige Häuser mit rostigen Eisenträgern für den zweiten Stock: „Man baute und träumte vom zweiten Stock.“ Gefährliche Schusswunden sind in der Gegend so häufig wie harmlose Erkältungen. In der Luft kreisen Hubschrauber, deren Piloten allerdings bestochen sind. Die Pestizide, die eigentlich die Mohnfelder zerstören sollen, laden sie stattdessen über den Dörfern ab – ein gesundes Leben sieht anders aus. Auch von Schule und Bildung kann nicht wirklich die Rede sein, denn die Lehrer, die es in diese Gegend verschlägt, suchen schnellstens wieder das Weite.
Hauptfigur ist die vierzehnjährige Ladydi Gonzales. Ihre Mutter wollte mit dem merkwürdigen Namen keineswegs die Prinzessinenhaftigkeit unterstreichen, im Gegenteil, Lady Diana ist ihr das Urbild aller von ihren Männern betrogenen Frauen – wie sie selbst. Wenn sie eine Tomate schneidet, ist es das Herz ihres Mannes, an das sie dabei denkt. Denn Ladydis Vater ist wie die meisten Männer über die Grenze in die Vereinigten Staaten gegangen, und wer dort erst einmal Fuß gefasst hat, neigt schnell und gern dazu, die Familie zu vergessen. So leben in den mexikanischen Bergen fast nur noch Frauen in einer Art Zwangsmatriarchat. Wegen des besseren Empfanges steigen sie an den Abenden auf Berggipfel und halten das Handy hoch, um den lang ersehnten Anruf des verschwundenen Ehemanns und Familienvaters nicht zu verpassen.
Die 1960 in den USA geborene und in Mexiko City aufgewachsene Schriftstellerin Jennifer Clement richtet den Blick ganz auf die Frauen und Mädchen, auf deren Leiden, Ängste, Beschädigungen. Zwar leben in den mexikanischen Bergen fast nur noch Frauen, andererseits werden ausschließlich Jungen geboren. Die Hälfte dieser Jungen verwandelt sich mit der Pubertät allerdings in Mädchen. Das hat nichts mit Genderexperimenten oder magischem Realismus zu tun. Mädchen werden häufig entführt und tauchen dann meist nie wieder auf – und wenn doch, verstört und mit Brandwunden am ganzen Körper wie Ladydis viel zu schöne Freundin Paula, die im Harem eines Drogenbarons landet. Deshalb wird das Geschlecht so lange wie möglich verborgen, und wenn dies nicht mehr möglich ist, werden die Mädchen von den Müttern bewusst hässlich angezogen und frisiert. Wenn sich die großen, schwarzen Autos der Drogenhändler nähern, verstecken sie sich schnell in Erdlöchern. Dort lauern zwar Skorpione, aber die sind meist gnädiger als die Drogenhändler und ihre Killer.
Ladydi eröffnet sich scheinbar ein Ausweg aus all dem Elend: eine Stelle als Hausmädchen in Acapulco und die Liebe zu einem jungen Gärtner, der sich dann allerdings als melancholischer Mörder entpuppt. Die Besitzer des verdächtig luxuriösen Anwesens tauchen in Monaten nicht auf, stattdessen stürmt eines Tages die Polizei die Villa und findet ein gewaltiges Waffenlager. Ladydi wird verhaftet, weil sie in Drogenschmuggel und einen spektakulären Doppelmord verwickelt ist, allerdings ohne es zu wissen: Sie hat während der Tat im Wagen des Mörders geschlummert. Im Gefängnis gerät sie wiederum in eine reine Frauenwelt, wo jede Inhaftierte Geschichten zum Fürchten zu erzählen hat und die Seelen so düster tätowiert sind wie die Körper.
Entführte Töchter und ermordete Frauen – der 2003 verstorbene chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño hat das Thema in seinem grandiosen Epos „2666“ beklemmend dargestellt. Jennifer Clements Roman „Gebete für die Vermissten“ aber kommt als kleiner, rotziger Pubertätsroman daher, scheinbar hautnah aus der Ich-Perspektive einer Halbwüchsigen erzählt, die nichts anderes als diese moralisch völlig auf den Hund gekommene Welt kennt. Der Stil ist einerseits trocken, lakonisch, messerscharf, andererseits sehr anschaulich dank der kühnen Metaphern und starken Bilder – da klingt die Stimme eines Mannes „nach Wüste, Klapperschlangen und Sandstürmen“. Brutalität und poetischer Mehrwert schließen sich in diesem Roman nicht aus.
Die Schrecklichkeiten drohen bei der Lektüre allerdings zur Routine zu werden. Nicht dass man der Autorin unterstellen wollte, sie hätte den mexikanischen Horror ins Belletristische übertrieben. Jennifer Clement hat zehn Jahre recherchiert und zahlreiche Interviews mit betroffenen Frauen geführt. Vielleicht besteht allerdings genau darin das Problem: Sie will all das, was sie zusammengetragen hat, auf gerade einmal zweihundert Seiten unterbringen. Ein etwas zu kleines Beet für so viele Blumen des Bösen. Weniger wäre vermutlich mehr gewesen. Trotzdem ist dies ein beeindruckendes Buch, hinter dem leider viel Realität steckt.
Jennifer Clement: Gebete für die Vermissten. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp, Berlin 2014. 228 Seiten, 19,95 €.
Wolfgang Schneider
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