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© dpa

Bolaños Meisterwerk "2666": Die Verscharrten dieser Erde

Das Chaos in eine Ordnung verwandeln: Roberto Bolaños monströser Meisterroman "2666".

Das Ende dieses gewaltigen und monströsen, absonderlichen und großartigen Romans ist ein perfektes. Allerdings nicht so sehr, weil Roberto Bolaño hier einen Kreis schließt, er den ersten Teil von „2666“, in dem vier Literaturwissenschaftler auf der Suche nach dem verschwundenen deutschen Schriftsteller Benno von Archimboldi sind, mit dem fünften und letzten Teil des Romans verbindet. In diesem erzählt er Archimboldis Leben und stellt schließlich dessen Beziehung zum eigentlichen Gravitationszentrum des Romans her, zu Mexiko; hier sitzt im Gefängnis einer nordmexikanischen Stadt, in Santa Teresa, sein Neffe Klaus Haas und ist zahlloser Morde an Mädchen und Frauen angeklagt, die es in der Stadt seit 1993 gegeben hat.

Nein, so richtig perfekt wird dieses Ende dadurch, dass Roberto Bolaño selbst auf der allerletzten Seite noch eine Abschweifung parat hat, und Abschweifungen ein konstituierendes Element dieses fast 1100 Seiten zählenden und trotzdem nie auseinanderfallenden Großromans sind. Bevor Archimboldi nach Mexiko reist, trifft er in Hamburg in einem Café mir nichts, dir nichts noch einen Nachfahren von Fürst Pückler. Dieser erzählt ihm, welch ein „rätselhaftes Vermächtnis“ sein Vorfahr hinterlassen hat. Denn in die Geschichte eingegangen sei Fürst Pückler nicht deshalb, weil er ein so großer Botaniker, Gartenbaumeister und Schriftsteller war, sondern als Namenspatron für die Eissortenkombination Vanille, Schokolade, Erdbeere: „Jeder hat irgendwann in seinem Leben ein Fürst-Pückler-Eis gegessen, besonders im Frühjahr und im Herbst eine reizvolle und schmackhafte Sache.“

Noch in dieser allerletzten Romanepisode beweist Bolaño seinen untergründigen Humor, seinen Sinn für das Bizarre – zu allem Überfluss erklärt der Pückler-Nachfahr auf die Frage Archimboldis die Vorzüge von Wassereis gegenüber Milcheis im Sommer. Zugleich aber demonstriert Bolaño mit dieser Episode, wie sinnlos alles Leben und Streben sein kann, wie nichts im Leben planbar ist.

Auch der 1953 in Santiago de Chile geborene Schriftsteller hat das am eigenen Leib erfahren müssen, als er 2003 kurz nach Vollendung des fünften Teils von „2666“ beim Warten auf eine Lebertransplantation den Folgen einer Hepatitis erlag. Den nahen Tod vor Augen, hatte Bolaño seinem Verleger Anweisungen gegeben, die fünf Teile des Romans nach und nach einzeln zu veröffentlichen, weil er glaubte, so die finanzielle Sicherheit seiner zwei Kinder garantieren zu können. Denn Bolaño war bis 1998, als er den Premio Rómulo Gallegos gewann, einen der wichtigsten lateinamerikanischen Literaturpreise, ein völlig unbekannter Schriftsteller. Auch in Deutschland avancierte er danach mit dem Buch „Naziliteratur in Amerika“ und erst recht mit seinem wahnwitzigen Roman „Die wilden Detektive“ zumindest zum Geheimtipp. Nicht zuletzt weil er trotz seiner Herkunft so gar nichts mit der schwerfälligen, selbstgenügsamen Literatur eines Gabriel García Márquez oder eines Mario Vargas Llosa zu tun hatte.

Tatsächlich lässt sich jeder Teil von „2666“ getrennt von den anderen lesen. Sie stehen trotz wiederkehrender Motive und Figuren in keiner zwingenden Verbindung zueinander, wiewohl die Veröffentlichung in ihrer Gesamtheit ein Glück für den Leser ist und von Bolaño ursprünglich auch so geplant war. Denn „2666“ erzählt vor allem davon, dass die Welt kein Ort für schlüssige Sinnzusammenhänge ist, dass Sinnlosigkeit, wie die Frauenmorde und das mangelnde Interesse an ihrer Aufklärung zeigen, geradezu ihr Handlungsprinzip ist: „Die Welt ist lebendig, und nichts, was lebendig ist, kann geheilt werden, und das ist unser Glück“, so Bolaño in einem Interview drei Tage vor seinem Tod. Dementsprechend hat er ein Romangebilde geschaffen, das voller Abgründe, Kaputtheiten, Wahnsinn, Tod und unaufgelöster Rätsel steckt, das unzählige Figuren und Geschichten beherbergt, das zahlreiche Spuren legt, denen oft gar nicht nachgegangen wird. Warum auch?

Trotzdem ist Bolaño mit „2666“ bei aller dominierenden Sinnlosigkeit auf der Suche nach dem Sinn des Ganzen, versucht er die Welt in ihrer Totalität zu erfassen. Dabei schwingt bei ihm immer das Bewusstsein mit, dass die Mittel der Sprache nicht ausreichen könnten: „Auch hier übten sich die Worte eher in der Kunst der Verschleierung als in der Kunst der Enthüllung“, heißt es einmal. „Oder vielleicht enthüllten sie auch etwas. Aber was, das kann ich Ihnen leider nicht sagen.“

Solcherart gewappnet, ist es ein Leichtes, sich in „2666“ zu verlieren und erst wieder aufzutauchen, wenn die letzte Seite gelesen ist – erschöpft, aber verändert, mit einer anderen Sicht auf die Welt, auf die Literatur. Auch drei der vier Literaturwissenschaftler verlieren sich in Santa Teresa, der Stadt der Frauenmorde, in der Archimboldi zuletzt gesehen worden ist. Der eine vergräbt sich im Hotel in Archimboldis Werken, der zweite verliebt sich in eine Mexikanerin. Und die Frau im Viererbunde, die mit beiden lange parallel eine Liebesaffäre unterhielt, verlässt die Stadt, so schnell es geht, und erklärt ihnen in Briefen, warum sie sich letztendlich in ihren im Rollstuhl sitzenden, daheim gebliebenen Kollegen verliebt hat. In Santa Teresa lebt auch der Philosophieprofessor Amalfitano mit Tochter Rosa, und hierhin verschlägt es im dritten Teil den schwarzen Sportjournalisten Fate, der über einen Boxkampf berichten soll, sich aber zunehmend mit den Morden beschäftigt.

Sie alle sind auf der Suche: nach Archimboldi und sich selbst, wie die Literaturwissenschaftler. Nach der Vernunft, wie Amalfitano, der seine Frau an den Wahnsinn verloren hat und nun selbst im Begriff steht, den Verstand zu verlieren, entwickelt er doch Gedanken, Gefühle und Fantastereien, „die das Chaos in Ordnung verwandelten, wenngleich um den Preis dessen, was man gemeinhin Vernunft nennt“. Sie sind auf der Suche nach den Verantwortlichen der Frauenmorde, so wie Fate. Und nach dem Glück, so wie die Mädchen, Prostituierten und Wanderarbeiterinnen von Santa Teresa, die diese Suche mit dem Leben bezahlen.

Während in den ersten drei Teilen des Romans der Absonderlichkeitsfaktor hoch ist, überwiegt im vierten (und auch im fünften, letztendlich von den Naziverbrechen erzählenden Teil) das Monströse: Bolaño berichtet im „Teil von den Verbrechen“ von 108 der über 400 Frauenopfer, die es in dem realen Vorbild von Santa Teresa, der an der Grenze zur USA liegenden Stadt Ciudad Juárez, zwischen 1993 und 2003 gegeben hat. Immer beginnen diese Abschnitte mit dem Fundort der Leiche, zumeist enden sie mit dem leisen Verschwinden des Falls in den Akten.

Das hat etwas von einem Protokoll, das könnte schnell ermüden. Doch Bolaño lässt es in den Kurzporträts der Toten nie an Empathie vermissen. Und er schaltet zwischen jede Tote die Geschichten der Menschen, die sich um die Aufklärung der Morde bemühen oder in sie verstrickt sind: Polizisten, Reporter, Politiker, Drogenbosse, Verdächtige, die Leiterin einer Psychiatrie, eine Hellseherin.

Sie tauchen auf – und sie verschwinden wieder, so plötzlich wie sie gekommen sind. Damit verkörpern sie das Prinzip der Abschweifung, dokumentieren sie, dass die Welt in ihrer Ganzheit, ihrem Irrsinn kaum zu fassen ist. Nichtsdestotrotz behält Roberto Bolaño alle Fäden in der Hand. Er schafft, indem er aufdringlich realistisch erzählt, vordergründig Ordnung, wo das Chaos regiert. Und schließlich weiß er mit einer seiner Figuren, dass „Schreiben sinnlos war. Oder nur dann der Mühe wert, wenn man imstande war, ein Meisterwerk zu schreiben.“ Mit „2666“ ist ihm das auf beeindruckende Weise gelungen.

Roberto Bolaño: 2666. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2009. 1085 S., 29, 90 €.

Gerrit Bartels

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