Goldene Palme geht an „La vie d’Adèle“: Cannes: Politisch mit Gefühl
Kurz, nachdem am Sonntag in Paris 150 000 gegen die Homo-Ehe demonstrierten, erhält in Cannes ein Film über die Liebe zweier Frauen die Goldene Palme. Doch die Auszeichnung für „La vie d’Adèle“ ist nicht allein politisch, sie ehrt auch einen unvergesslichen Film - für den die Jury sogar mit ihren Regeln bricht.
Frankreich liebt Demos. Manchmal auch gegensätzliche, nahezu gleichzeitig. Und wenn die einen laut werden, dann werden die anderen umso deutlicher. In Paris versammelten sich am Sonntag 150 000 Leute zu einer „letzten Demo“ gegen die vom Parlament längst beschlossene Homo-Ehe, die in Frankreich „mariage pour tous“ heißt, Hochzeit für alle. Und am Abend gibt es in Cannes die Goldene Palme für einen radikalen Film über die Liebe zweier Frauen, „La vie d’Adèle“.
Das ist insofern nicht überraschend, als Abdellatif Kechiches Dreistundendrama seit der Premiere am Mittwoch einen Triumphzug bei Kritikern und Publikum hingelegt hatte. Und doch eine Sensation. Denn die von Steven Spielberg souverän angeführte Jury legt noch eins drauf. Sie setzt sich über ein Cannes-Reglement hinweg, das die Vergabe der Goldenen Palme und der Schauspielpreise an ein und denselben Film ausschließt.
Cannes feiert das Politische
Dann eben Palmen für alle drei! Für Regisseur Abdellatif Kechiche und die Hauptdarstellerinnen, die 27-jährige Léa Seydoux und die erst 19-jährige Adèle Exarchopoulos. Dazu eine wunderbar stockende Dankesrede Kechiches, der mit seinen Filmen, ob „L’esquive“, „Couscous mit Fisch“ oder „Vénus noire“ bislang nicht über den Wettbewerb von Venedig hinausgekommen war.
Und: Rührung und Küsse und Gelächter und Jauchzer und Tränen bei Seydoux und Exarchopoulos. Nach der makellosen Lebensabschiedsliebesgeschichte „Amour“, mit der Michael Haneke letztes Jahr die Goldene Palme gewann, nun also eine sehr sexuelle, sehr anrührende Liebesgeschichte unter jungen Frauen. Im aufgeheizten rechtsorientierten Wutbürgerklima Frankreichs feiert Cannes somit das Politische, aber zugleich das große Gefühl. Ob es Frauen aneinander bindet oder Männer, oder Männer an Frauen und umgekehrt. Auch Kechiche stellt eine Doppelverbindung her: Er rühmt in seiner Rede die „junge Revolution“ in Tunesien, wo er seine Kindheit verbrachte, und das Glück, „frei zu leben, frei zu lieben“.
So geht die Demo von Cannes, die Demo der Künstler und ihres begeisterten Publikums. Alles andere verblasst daneben, auch die kluge Vergabe der restlichen Preise. Nichts Wesentliches wurde vergessen. „Adèle“ aber ist unvergesslich.