Wolf Wirth Retro im Zeughauskino: Blick auf die Nachkriegsgesellschaft
Der Kameramann des Neuen Deutschen Films: Das Zeughauskino würdigt Wolf Wirth mit einer Werkschau.
„Das Brot der frühen Jahre“ von Herbert Vesely gilt als erste Produktion des Neuen Deutschen Films. Vesely gehörte 1962 zu den 26 Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, mit dem sich eine junge Generation von Regisseuren vom Unterhaltungskino ihrer Zeit abgrenzen wollte. „Das Brot der frühen Jahre“ war für den Neuen Deutschen Film stilbildend. Ein Waschmaschinenmonteur (Christian Doermer) holt eine alte Bekannte (Karen Blanguernon) vom Bahnhof ab und ist von ihr so bezaubert, dass er sein Leben völlig auf den Kopf stellt. Als Bewusstseinsstrom fließt der Film elegant dahin, mit jazzigem Soundtrack und assoziativen Off-Kommentaren. Die Kamera übersetzt diese Attitüde visuell: Unablässig wird sie von spiegelnden Oberflächen angezogen, von Glas, Marmor und Chrom, umkreist die Sprechenden, als wäre sie selbst eine Protagonistin, gleitet dahin, dreht sich und zoomt zugleich, bis es scheint, als sei jedes einzelne Bildelement in Bewegung versetzt.
Verantwortlich für diesen Look war der 1928 in Nürnberg geborene Wolf Wirth, der einzige Kameramann unter den „Oberhausenern“. Das Zeughauskino widmet ihm nun erstmals eine Retrospektive seines Schaffens, das ein durchaus kurioses Bindeglied zwischen den Strömungen deutscher Filmproduktion am Übergang von „Papas Kino“ zum Neuen Deutschen Film darstellt. „Venusberg“ (1963) von Rolf Thiele, der die Reihe am Donnerstag eröffnet, steht stellvertretend für Wirths „generationenübergreifendes“ Werk.
Thiele, dessen Filme schon lange vor der Sexfilmwelle der Siebziger von sehr freizügigen, eigenwilligen Frauenfiguren handelten, war ein Relikt jener Altbranche, von der sich die Jungen abgrenzen wollten. Eine Gruppe Frauen wartet gelangweilt in einer Villa bei München auf den Playboy Alfonse. Die Wartezeit – und die Handlung von „Venusberg“ beschränkt sich tatsächlich aufs Zeittotschlagen – überbrückt Wirth mit Gesprächen zwischen den Rivalinnen und vom europäischen Autorenfilm beeinflussten Bildern: die Silhouetten der tanzenden Frauen, ihre oft nur angeschnittenen Gesichter, Experimente mit der Tiefenschärfe. Wenn sie sich langsam aus der Unschärfe herausschälen, schimmern ihre stark geschminkten Augen wie Insekten.
Bilder einer aus den Fugen geratenen Welt
Wirths Filme beginnen auffällig oft in Transiträumen, in einer Bewegung hin zum Ort des Geschehens: Am Anfang von „Venusberg“ läuft Marisa Mell verloren durch den Münchener Hauptbahnhof, Männer verrenken sich den Hals, um einen Blick auf ihren Leopardenfellmantel zu erhaschen. Auch „Das Brot der frühen Jahre“ beginnt am Bahnhof. Diese Szenen loten das Verhältnis ihrer Figuren zur Welt aus. In Peter Lilienthals Fernsehfilm „Stück für Stück“ saugt die Kamera durch die Fenster eines Lastwagens Impressionen aus Berlin-Charlottenburg auf: Fabrikgebäude, geschäftige Einkaufsstraßen und eine leergebombte Brache, auf der ein verlassenes Karussell steht. Aus dem Führerhaus steigt eine alleinerziehende Mutter (Eva Brumby), an der der Wirtschaftsaufschwung folgenlos vorbeigezogen ist. Eine Stunde lang wird sie versuchen, ihrem Jungen den Traum vom teuren Rennrad zu erfüllen.
Eine ähnliche Funktion nimmt das Auto in Rolf Thieles Satire „Die Ente klingelt um halb acht“ (1968) ein. Nicht nur bringt die Kollision mit einem Zirkuselefanten die Handlung in Gang, infolge derer ein von Heinz Rühmann gespielter Arzt kerngesund in einer Nervenheilanstalt landet. Der chaotische Straßenverkehr, von Wirth wiederholt durch die Fenster verschiedener fahrender Autos gefilmt, ist auch das eindrückliche Motiv für eine aus den Fugen geratene Welt. Die Perspektive macht keinen Unterschied mehr, sie krankt beim Blick in eine mögliche Zukunft genauso wie beim Blick in die Gegenwart – oder die Vergangenheit.
Militarismus aufs Korn nehmen
So filmt Wirth die Figuren mal aus der Vogelperspektive, mal aus einer extremen Untersicht – und immer wieder gerahmt von Zaunlatten, Gitterstäben, avantgardistischen Deko-Elementen. In Hansjürgen Pohlands „Katz und Maus“ zeichnet seine Kamera den Verlauf einer ausladenden Treppe nach, an deren oberem Absatz der zum Hitlergruß abgespreizte Arm des Schuldirektors die verwinkelte Architektur fortführt. Die Verfilmung der gleichnamigen Novelle von Günter Grass nimmt den Militarismus während des Zweiten Weltkriegs aufs Korn.
Am exzessivsten erfasst Wolf Wirth den Blick auf die bigotte Nachkriegsgesellschaft in Thieles „Moral 63“. Nadja Tiller gibt die verhaftete Bonner Bordellbetreiberin, die ihre Lebenserinnerungen für einen Sensationsreporter (Mario Adorf) auf Band spricht. Bei einem Karnevalsumzug kippt die Kamera wild von links nach rechts, dreht sich beinahe auf den Kopf und kulminiert schließlich in völlig entfesselten Collagensequenzen, in denen sich verschiedene Bildebenen kunstvoll überlagern: Die posierende Nadja Tiller, Feiernde in grotesken Tiermasken, glänzende Insekten und Reptilien in Großaufnahme. Vordergründig mögen diese Bilder den Exzess aburteilen, aber die Lust an ihm können sie auch nicht verbergen.
Im Zeughauskino, 25.10. bis 15.12.
Katrin Doerksen
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