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Diese Collage zeigt Alexander von Humboldt am Orinoco, gemalt von Friedrich Georg Weitsch, und daneben ein von Humboldt selbst gezeichnetes Floß in Ecuador.
© picture-alliance / prismaarchivo

Humboldts Reisetagebücher in der Staatsbibliothek: Blätter, die die Welt bedeuten

Eine kostbare Angelegenheit: Alexander von Humboldts amerikanische Reisetagebücher sind für drei Tage in der Staatsbibliothek zu sehen.

Papier mag geduldig sein. Doch diese Blätter haben heroischen Charakter. Sie sind über den Atlantik gefahren, über die Ströme des Amazonas und des Orinoko, sie wurden auf Vulkane geschleppt und durch das Hochland der Anden. Ohne Beschädigung haben sie feuchtheißes Klima überstanden und dramatische Temperaturwechsel, fünf Jahre lang. Gut sehen sie aus, wie sie da in einem Restaurierungslabor der Staatsbibliothek an der Dorotheenstraße liegen, bereit für einen Ausflug, der sie in der kommenden Woche in das Haus der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße führt. Dort sind die amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts jetzt einmal öffentlich zu sehen – drei Tage lang. Dann nehmen sich Wissenschaftler den Schatz vor, und das wird wegen der Fülle des Materials etliche Jahre dauern.

Alexander von Humboldt wurde 1769 in Berlin geboren, hier starb er auch, im Mai 1859, mit fast 90 Jahren. So biblisch sein Alter, so enzyklopädisch sein Werk einer möglichst umfassenden Anschauung der Welt. Die wissenschaftlichen Gebiete sind damals noch nicht scharf geschieden. Bergbau und Geologie, Pflanzenkunde und Meteorologie, Zoologie und Sprachwissenschaft, die Bauten und Artefakte der mexikanischen Kulturvölker, Fragen der Ernährung und Landwirtschaft faszinieren Humboldt gleichermaßen. Ihn beschäftigen der Welthandel ebenso wie die Sklaverei in der Neuen Welt, die er verabscheut. Das Humboldt-Forum, das in der Mitte Berlins aufwächst und – wenn es weiter nach Plan läuft – 2019 eröffnet wird, soll diesen globalen Geist aufnehmen. Der Weltbürger Alexander von Humboldt, ein Kind der Aufklärung, geprägt von der Weimarer Klassik, empfiehlt sich als universaler Geist für das 21. Jahrhundert.

Von Spanien aus segelt Humboldt 1799 nach Lateinamerika. Dort nennt man ihn heute noch den „zweiten Entdecker“, nach Kolumbus. Er aber habe, im Gegensatz zu den Konquistadoren, humane Ideen und Fortschritt gebracht. 1804 kehrt er nach Europa zurück, und er wird sein Leben lang von der großen Reise zehren, seine Erfahrungen und Messungen auswerten und in zahlreichen Publikationen niederlegen, bis hin zum „Kosmos“, seinem fünfbändigen Testament. Er nannte es „Versuch einer physischen Weltbeschreibung“.

Auf der Amerikareise – sie führt ihn von der Karibik bis nach Lima – wurde Humboldt zum zweiten Mal geboren. In Berlin ein etwas kränkelnder Junge, der nicht leicht lernte, macht er auf der Dschungeltour nicht einmal schlapp. Sein Körper stärkt sich an den unglaublichen Strapazen. Und an dem gewaltigen Pensum, das der Wissenschaftler und Schriftsteller absolviert. Er ist geduldig, stur, widerstandsfähig, wie seine Tagebücher, die auch nach dem Tod ihres Herrn auf wilden Routen unterwegs waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangten sie nach Moskau und kehrten 1958 nach Ost-Berlin zurück. Im Zuge der Wiedervereinigung landeten sie wieder im Privatbesitz der Familie von Heinz, Nachkomme von Wilhelm von Humboldt, Alexanders Bruder, des Sprachwissenschaftlers, Diplomaten und Bildungsreformers; Wilhelm gründete 1810 die Universität in Berlin, die seit 1949 erst den Namen der Brüder trägt. 2013 wurden die Tagebücher von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erworben, aus Privatbesitz. Der Kaufpreis betrug zwölf Millionen Euro, der Bund wollte verhindern, dass die Bücher ins Ausland verkauft werden. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat sie als „Teil unseres preußischen Erbes“ bezeichnet. Wobei man gerade Alexander von Humboldt eher dem Welterbe zurechnen muss. Über 20 Jahre hat er in Paris gelebt, er träumte von der Errichtung einer Akademie in Lateinamerika, die Idee des Reisens hat ihn nie verlassen. Noch mit 60 Jahren ging er von Berlin aus auf eine sibirische Expedition, in Kutschen und Schiffen.

Und nie hat er seine Reisetagebücher von 1799 bis 1804 ad acta gelegt. Sie sind die Basis seiner Arbeit. Erst in den letzten Lebensjahren lässt er sie in Leder binden. So haben sie ihre Gestalt bekommen: neun Bände unterschiedlichen Formats, denn es handelt sich bei den Tagebüchern eigentlich um Hefte. Jeder dieser neun Bände umfasst an die sechs, sieben Hefte, insgesamt 4000 Seiten. Die Heftumschläge haben gelitten, sind aus billiger Pappe, die sich verfärbt hat. Die Heftseiten aber, aus Bütten von hoher Qualität, erforderten nur geringe Restaurierungsarbeit. Auch die Tinte war von haltbarer Natur.

Die Notizhefte sind der feste Boden seiner teils irrwitzigen Exkursionen

Diese Collage zeigt Alexander von Humboldt am Orinoco, gemalt von Friedrich Georg Weitsch, und daneben ein von Humboldt selbst gezeichnetes Floß in Ecuador.
Diese Collage zeigt Alexander von Humboldt am Orinoco, gemalt von Friedrich Georg Weitsch, und daneben ein von Humboldt selbst gezeichnetes Floß in Ecuador.
© picture-alliance / prismaarchivo

Man beugt sich über diese praktischen Wunderwerke und wagt kaum, die Seiten zu berühren, die schon so viel durchgemacht haben. Der Begriff Schriftkultur kommt einem in den Sinn; dass keine Kultur denkbar wäre ohne Alphabet und Schreibhand, die Humboldt unermüdlich über das Blankopapier führt. Die Notizhefte sind der feste Boden auf seinen zum Teil irrwitzigen Exkursionen; Gedächtnis und Orientierung. Der Blick wird hineingezogen in ein lebendiges Gewimmel: Piranhas, Zitteraale, Affen, Berge, Tabellen schauen aus dem Meer der winzigen Handschrift hervor, Humboldt schreibt platzsparend und vielsprachig; deutsch, französisch, englisch, spanisch. Das wechselt manchmal in einem Satz. Humboldt hat auch Zettel eingeklebt, seine Notizen Jahre später ergänzt und kommentiert, dafür ließ er am Rande Platz – ein Bild seines Denkens, ein Organismus aus Buchstaben, Zahlen, Zeichnungen. Das kann sich nun jeder überall auf der Welt anschauen. Die Tagebücher sind eingescannt worden, die Faksimiles werden im Internet zugänglich gemacht.

Aber das ist nur der Beginn mehrerer Forschungsprojekte der Staatsbibliothek, der Universität Potsdam und der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die Alexander von Humboldts gesamten Nachlass endlich erschließen. Tausende Seiten lagern in Berlin und in Krakau, in der Jagiellonen-Bibliothek. Dorthin sind sie während des Zweiten Weltkriegs gelangt, Krakau besitzt etwa ein Drittel des Nachlasses, wozu die Handschriften und Briefe zum „Kosmos“ gehören. Deutsche und polnische Wissenschaftler arbeiten hier zusammen. Eines Tages soll der gesamte Humboldt-Nachlass-Komplex digitalisiert und transkribiert sein und in einer vollständigen Edition vorliegen.

Dynamisches Denken. Alexander von Humboldts Reisetagebücher.
Dynamisches Denken. Alexander von Humboldts Reisetagebücher.
© Thilo Rückeis

Bei Humboldt kommt man aus dem Staunen und der Arbeit nicht heraus. Es ist erst gut zehn Jahre her, dass seine Hauptwerke in der Anderen Bibliothek in angemessenen Editionen und unverfälscht auf Deutsch erschienen sind. Zuvor gab es über bald zwei Jahrhunderte ein editorisches Chaos. Alexander von Humboldt war ein Buchfanatiker. Er gab ein Vermögen aus, um seine Schriften in den besten Druckereien und mit den exquisitesten Illustrationen herauszubringen. Diese Ausgaben kosten heute hunderttausende Euro. Nach seinem Tod wurden die Werke verstümmelt, popularisiert, verdreht. Die Nationalsozialisten versuchten, Humboldt zu einem deutschen Welteroberer zu stilisieren. Eine amerikanische Edition unterschlug, noch zu seinen Lebzeiten, sein Engagement gegen die Sklaverei auf Kuba.

Im Sommer 1804 geht die Amerikareise mit einem Besuch bei US-Präsident Jefferson zu Ende. Humboldt verbrachte ein paar Wochen auf dessen Landsitz Monticello. Zu den Themen, über die der Deutsche und der Amerikaner konversieren, gehören Fragen des transatlantischen Austauschs und eines Kanaldurchstichs in Panama. Wieder in Europa, auf Amerika zurückblickend, schreibt Humboldt: „Im heißesten Klima des Erdballs habe ich oft 15 bis 16 Stunden hintereinander geschrieben oder gezeichnet (...) und ich bereite mich auf eine Reise nach Asien vor, nachdem ich die Ergebnisse meiner amerikanischen Forschungsreise veröffentlicht habe.“

Diese Veröffentlichungen waren ein beispielloser intellektueller, handwerklicher und auch finanzieller Kraftakt, sie sollten sich hinziehen bis in sein hohes Alter. Zum Himalaya aber kam er nie. Seine Aufzeichnungen, für die er in gefährlichsten Gegenden so viel Zeit und Ruhe fand, offenbaren immer auch den Drang zum nächst höheren Gipfel und breiteren Fluss. Humboldt lässt sich schwer fixieren. Sein Element ist die Bewegung. Nach ihm ist alles Mögliche auf dem Planeten benannt, Städte, Stiftungen, Bildungseinrichtungen. Aber auch, ein schönes Symbol für sein dynamisches Denken, eine Meeresströmung im Pazifik.

Die Ausstellung der Reisetagebücher in der Staatsbibliothek zu Berlin, Potsdamer Str. 33, Do 4.12. 14-21 Uhr u. Fr/Sa 5./6.12., 10-19 Uhr. www.staatsbibliothek-berlin.de

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