Serie zu Türmen in Berlin: Bierpinsel in Steglitz: Kutterscholle im Betonbaum
Für die einen ein seltsames Ding, für andere ein Monument und eine architektonische Meisterleistung: ein Spaziergang rund um den Bierpinsel in Steglitz.
Was ist denn das? Was ist das für ein Ding?, staunt die Tochter, als wir aus dem U-Bahnhof Schlossstraße kommen. Sie war noch nicht so oft in Steglitz.
Deshalb sind wir da, sage ich. Ich weiß, worüber sie sich wundert, ich muss selbst immer wieder über den Bierpinsel staunen. Dieses seltsame Gebilde an der Stadtautobahn. Diesen Kelch, diese Riesenblume mit Betonstiel. Wie sie da aufragt und sich ausbreitet. Sieht aus, als sei dieses Ding außen mit riesigen alten Klapphandys beklebt, sagt die Tochter. Oder mit sehr großen Digitaluhren.
Tja, was ist das? Ein Kunstwerk, zweifellos. Eine architektonische Meisterleistung. Eine Großskulptur. Ein Monument. Ein Denkmal, das die siebziger Jahre sich errichtet haben. Ein geniales, zugleich unmögliches und dysfunktionales Bauwerk, zur Zeit leider verunstaltet durch seltsame Bemalung. Früher war es nur rot und sah noch viel besser aus.
Es erinnert ein bisschen an ein Raumschiff, sagt die Tochter. Recht hat sie. Warum wurde der Bierpinsel nicht metallisch-schwarz gestrichen? Er könnte ein kleiner Todesstern sein. Ist er ja gewissermaßen schon, bisher ist noch jeder Pächter gescheitert, alle Lokale, die dort je eröffneten, mussten wieder schließen. Zur Zeit steht der Bierpinsel wieder mal leer.
Dem Architektenpaar des Pinsels verdankt die Stadt auch das ICC
Die Architekten Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler hatten eine Vision, eine Idee und eine Form. Und sie hatten die Möglichkeiten, so war die Zeit, diese zu verwirklichen. Und so setzten sie ein Zeichen, erbauten ein Eis am Stiel, das ursprünglich Schlossturm hieß, angeblich aber schon seit dem großzügigen Freibierausschank am Eröffnungstag im Jahr 1976 Bierpinsel genannt wird. Dem mutigen Architektenpaar verdankt Berlin auch das ICC. Hätten sie es nicht selbst schon getan, Berlin müsste ihnen Denkmäler bauen.
Mir fällt ein, wann ich zuletzt im Bierpinsel gewesen bin, es muss um 2001 herum gewesen sein, kurz bevor dieses Wahrzeichen zum ersten Mal geschlossen wurde. Das Turmcafé und -restaurant löste das futuristische Versprechen der äußeren Erscheinung leider nicht ein. Innen war es eine Art Kurcafé, blautoniger Teppichboden grundierte den Raum, dunkelbraune Sitzbezüge zierten die Stühle. An den Fenstersäulen hingen pseudobronzierte Braunglasspiegel, die den Raum optisch hätten vergrößern können – wenn dieser nicht mit Topf- und Grünpflanzen zugestellt gewesen wäre. Farnwälder versperrten den Gästen an Tischen, die nicht am Fenster standen, die Aussicht. Es wucherte über der Tiburtiusbrücke.
Gelang der Ausblick, dann entschädigte er jedoch für alles, als Besucher fühlte ich mich er- und enthoben. Bin ich auch ein wenig abgehoben? Die Lüftung rauschte wie ein Antrieb, sie zischte so laut wie Luft, die aus einem Fahrradventil entweicht, sie strömte aus braun lackierten Metallkästen. Die Bedienung war schwarz-weiß gekleidet, und auf der Speisekarte standen Großelterngerichte: Zanderfilet, „Warnemünder Kutterscholle“ und Hühnerfrikassee.
„Auf einer nur 45 Quadratmeter großen Grundfläche bietet der Turmbau tausend Quadratmeter Nutzfläche“, informierte die Speisekarte damals, „architektonisch“ reimte sich auf „gastronomisch“ und es war auch die Rede vom „Treffpunkt über den Dächern von Berlin“. Das klang fast so mondän wie über den Dächern von Nizza.
Auf einer so geringen Grundfläche so viel Nutzfläche unterzubringen – sprach da die eingemauerte Stadt, die fürchten musste, der Raum könnte knapp werden? Die Stadt, die paradoxerweise zugleich große Flächen der Stadtautobahn opferte? Die ließ sich von dort oben wunderbar ausmachen und müsste sich, kämen wir heute bloß hinauf, noch heute ausmachen lassen. Im Aufblick wird ja sichtbar, welche Schneisen für die Stadtautobahn in die Altbaugebiete gefräst wurden. Leider wurden die Ränder dieser neuen Schneisen in Berlin nicht so gekonnt bebaut und neu gefasst, wie der Seine-Präfekt Baron Haussmann es Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris anordnen ließ. Schade, Berlin hat keine Immeuble Haussmannien – dafür aber einen Bierpinsel über der Autobahn.
„Bierpinsel – hinauf ins himmlische Vergnügen“ warb das Emblem auf der Speisekarte, ich erinnere mich. Ein himmlisches Vergnügen war jedenfalls der Toilettenbesuch: Über jedem Pissoir befand sich ein Fenster. Wer dort stand hatte eine schöne Aussicht, er konnte Richtung Dahlem urinieren. Es waren vermutlich die hellsten Tageslichttoiletten Berlins. Der Schlossturm war ein Toilettenpalast.
36 Meter ist er hoch, dieser heute geschlossene Toilettenpalast. Er ist also gar nicht besonders hoch. Die Turiner Mole Antonelliana, ein viel älteres, jedoch ebenfalls überraschend unförmiges Bauwerk, ist fast viermal so hoch. War der Bierpinsel damals vielleicht die bewusst tiefstapelnde Antwort auf den viel höheren Ost-Berliner Fernsehturm? Eine Antwort, die sagen wollte: Wozu viel höher hinauf? Wir müssen ja bloß West-Berlin überschauen, wir wollen ja bloß Lankwitz und Wilmersdorf sehen, aber nicht weiter. Wir wollen gar nicht bis zur Mauer schauen. Wir wollen sie nicht sehen.
Wie die Kulisse für einen West-Berlin-Film, der nie gedreht wurde
Warum habt ihr mich bloß gebaut? Und wozu stehe ich hier? Fragen, die sich viele Gebäude stellen müssten, drängen sich auf. Eine andere Zeit hätte an diesem Ort vielleicht eine Kathedrale errichtet. Müsste der Bierpinsel nicht der Dom von Steglitz sein? Oder handelt es sich bei diesem Bauwerk um mehr oder weniger haltbar ausgeführte Filmarchitektur? Sind das ICC, die Autobahnüberbauung an der Schlangenbader Straße und dieser Bierpinsel eventuell Kulissen für einen West-Berlin-Film, der nie gedreht wurde?
Zweifellos ist der Bierpinsel auch eine realisierte Beton-Machbarkeitsstudie. Er soll zeigen, wozu dieser Baustoff sich auch formen lässt. Und ja, wirkt dieser Riesenbetonbaum im direkten Vergleich mit einem Hochbunker, im Vergleich mit den Flaktürmen am Humboldthain zum Beispiel, nicht geradezu filigran? Trotzdem, die Kriegsgeneration hatte ihre einschlägige Erfahrung, hier vor Ort in Berlin. Die Treppenbrüstung aus Sichtbeton böte deshalb bei erneutem Straßen- und Häuserkampf gute Deckung.
Kraftwerk sangen 1974, da wurde am Bierpinsel noch gebaut: „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“. Der fertige Bierpinsel wurde dann zum Ausguck und Hochsitz über diese Autobahn. Zwei Kriege zuvor wurden Bismarcktürme auf bewaldeten Bergkuppen errichtet, die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts bauten Autobahnen und hier einen Aussichtsturm über die autogerechte Stadt Berlin (West), direkt an dieser Autobahn, die einen Hauch von Ferne und ein Gefühl von Weite in die Stadt brachte. Weite, die diese Stadt immer ausgezeichnet hat.
Tochter und ich stapfen am Fuß des Bierpinsels herum, ich sage ihr, dass ich mich nach dem satten, später leicht ausgeblichenen Rot der alten Fassade zurücksehne, wir entdecken sogar ein Schild, das noch immer für das „Bier- und Weingewölbe“ im Schlossturm wirbt. Wir würden so gerne hinauf auf diesen Turm und hinuntersehen, rütteln allerdings vergeblich an den Türen.
Der Bierpinsel ist zu. Schade.
David Wagner lebt als Schriftsteller in Berlin. Gerade erschienen: „Drüben und drüben. Zwei deutsche Kindheiten“ (mit Jochen Schmidt), Rowohlt Verlag.