Lido-Lichtspiele: Das Finale: Bestien der Apokalypse
Abgrenzung, Annäherung und die Kunst der Koexistenz. Eine Bilanz des 72. Filmfests von Venedig
Im venezianischen Palazzo Benzon unweit des Teatro La Fenice haben sich Indien und Pakistan am Rande der Kunst-Biennale zu einer Ausstellung zusammengetan. Darin hängt eine Videoarbeit des pakistanischen Künstlers Rashid Rana, die sich aus tausenden Mini-Ausschnitten von Actionfilmen, TV-Nachrichten und Überwachungsvideos zusammensetzt und ausnahmslos Gewaltszenen zeigt. Tritt man zurück, fügen sie sich wie Pixel zu einem leicht flackernden Gemälde zusammen, zu Caravaggios Meisterwerk „Judith enthauptet Holofernes“.
Schöne Vorstellung. All die bewegten Bilder des Filmfests Venedig mögen am Ende bitte einen geschlossenen Eindruck ergeben, eine Gesamtschau der Welt. Aber das Kino taugt nur etwas, wenn es Gewissheiten zerstreut und den Überblick verweigert. Kein schlechter Jahrgang, diese 72. Mostra: Die meisten Geschichten über Krieg und Gewalt, die das Festival auch 2015 reichlich versammelte, entsprachen keiner konfektionierten Erwartung.
Zhao Liangs Stahl- und Bergarbeiter- Dokumentation „Behemoth“ schlug am letzten Tag vor der Preisverleihung an diesem Sonnabend mit ungeheurer Wucht in die Spätsommerstimmung am Lido ein und sprengte das aktuelle China-Bild auf. Ein Dante’sches Poem über die Hölle auf Erden, über Schönheit und Schrecken der gewaltigen Umwälzungen im Reich der Mitte. Gigantische Kohle-Tagebaureviere verwandeln die Innere Mongolei in eine Mondlandschaft, Explosionen bringen halbe Gebirge zum Einsturz, die letzten Nomaden mit ihren Schafherden ziehen davon. Schwarze Sonne, giftgrünes Weideland: unfassbare, gestochen scharfe, ausnahmslos heimlich gedrehte Aufnahmen auch aus den Fegefeuern der Stahlkocher und den Geisterstädten nie bewohnter Megacitys mitten in der Wüste.
Momente der Utopie, des Andersseins, der Koexistenz
Im Krankenhaus wird schwarzes Wasser aus den Staublungen der Arbeiter gespült, sie sterben in großer Zahl. China wie auch der Rest der Welt, der billige Rohstoffe braucht, scheren sich nicht um die Toten und die Zerstörung ganzer Regionen. „Wir sind alle Komplizen, sind alle Teil des Monsters“, sagt Regisseur Zhao Liang, der seinen Film nach einer Bestie aus der Apokalypse benannt hat.
Von wegen wir hier, ihr dort. Die Kindersoldaten in „Beasts of No Nation“, die Auschwitz-Täteropfer in Atom Egoyans „Remember“, der fürsorgliche Familienvater als brutaler Gangsterboss im argentinischen „El Clan“: Wer unterscheidet zwischen Gut und Böse? „El Clan“, der neben Amos Gitais „Rabin“-Dokufiction und dem türkischen Albtraum-Film „Abluka“ zu den Löwen-Favoriten zählt, lässt den Zuschauer am Familienalltag mit Hausaufgaben am Küchentisch sowie schreienden Entführungsopfern im Keller teilhaben. Pablo Traperos Film basiert auf der wahren Geschichte des Puccio-Clans, der reiche Leute entführte und Anfang der 80er Jahre zunächst noch den Schutz des alten Regimes genoss.
In „Desde allá“ (Von Weitem) aus Venezuela schlägt die von Gewalt grundierte Begegnung zwischen einem älteren Spanner und einem Straßenjungen in eine Vater-Sohn-Beziehung um, ja in so etwas wie Liebe. Zwei traumatisierte, missbrauchte, allein gelassene Männer, die auf ihre Art Nähe riskieren: eine unmögliche Liaison, in der ein utopisches Moment aufscheint.
Momente der Utopie, des Andersseins, der Koexistenz. In diesen Tagen, in denen die Flüchtlinge europaweit Topthema sind, registriert man solche Szenen mit besonderer Aufmerksamkeit. Ebenso die Momente der Abschottung und Ausgrenzung. Etwa wenn die wohlhabenden Urlauber aus der Rockszene in „A Bigger Splash“ auf der italienischen Insel Pantelleria afrikanischen Flüchtlingen über den Weg laufen und davon so irritiert sind, als träfen sie beim Spaziergang auf streunende Hunde. Oder wenn Tilda Swinton als Kult-Rockstar den Mord im Pool mal eben den Bootsflüchtlingen in die Schuhe schieben will.
Im französischen Gerichtsfilm „L’Hermine“ mit Fabrice Luchini als wunderbar ruppigem Richter sitzt die Laienjury am ersten Prozesstag beim Lunch zusammen. Eine Ärztin, eine Arbeitslose, ein Girlie, brave Angestellte, eine arabischstämmiger Patriarch, eine junge Kopftuchträgerin: Sofort kabbeln sie sich, diskutieren die eigenen Moralvorstellungen sowie den mutmaßlichen Säuglingsmord – und raufen sich wieder zusammen. Frankreich als Mikrokosmos, so disparat wie aufgeschlossen.
Wenn Alexander Sokurow am Lido hingegen die europäische Identität beschwört und vor den Gefahren des Islam warnt, erschrickt man. Ja, der IS hat Palmyra zerstört, aber der IS ist nicht der Islam. In seinem Essayfilm „Francophonia“ über die Rettung der Louvre-Schätze durch einen deutschen Nazi und den französischen Museumsdirektor spricht der russische Regisseur aus dem Off, grenzt die abendländische Porträtmalerei vom Ikonoklasmus der Moslems ab und würdigt die Leistung der NS-Kulturschützer. Nach der Filmpremiere äußerte sich Sokurow im „Corriere della sera“: „Die christlichen, europäischen, säkularen Werte hören auf zu existieren, wenn wir weiter den sogenannten ,Flüchtling‘ akzeptieren.“ Man müsse die Herkunftsländer dazu bringen, ihre Probleme intern zu lösen. Sein Film verniedlicht Hitler zur Witzfigur und verliert kein Wort über die NS-Verbrechen in Frankreich, kein Wort über die 75 000 von dort deportierten Juden.
Freude an der Differenz - das macht gutes Kino aus.
Zudem irrt Sokurow. Nicht die Abgrenzung beflügelt die europäische Hochkultur, sondern der Kontakt. Die einstige Handelsmacht Venedig ist das beste Beispiel für die fruchtbare Begegnung von christlicher und arabischer Kunst, dafür, wie maurische und byzantinische Einflüsse im Verein mit Renaissance und Barock die schönste Architektur der Welt formten.
Die wilde Mischung, die Freude an der Differenz, die Feindberührung, auch das macht gutes Kino aus. Der Mann, der eine Frau ist: Eddie Redmayne als eine der ersten Transgender-Frauen in „The Danish Girl“. Die Opernsängerin, die schrecklich falsch singt und einen damit zu Tränen rührt: Catherine Frot als „Marguerite“. Der Gesang, der zum Schrei wird, zum Urschrei des Blues: „Bist du sicher, dass du eine Weiße bist?“, fragt ein schwarzer Musiker Janis Joplin in Amy Bergs intimer Doku „Janis“. Und Amos Gitai erinnert in „Rabin, The Last Day“ über die Ermordung des israelischen Premiers Jitzhak Rabin 1995 daran, dass Frieden nur möglich ist, wenn man bereit ist, dem Gegner auf Augenhöhe zu begegnen. Und dass ein einzelner Mensch vielleicht doch etwas ausrichten kann in der Weltpolitik.
Frederick Wiseman nimmt das Publikum in seiner Dreistunden-Doku „In Jackson Heights“ in jenen New Yorker Stadtteil mit, in dem 167 Sprachen gesprochen werden und die Nachkommen der im 19. Jahrhundert eingewanderten Familien mit den heutigen Migranten zusammenleben. Die Homosexuellen verhandeln mit den Juden um die gemeinsame Nutzung der Synagoge, Frauen aus Bangladesch trainieren für den Einbürgerungstest, im Waschsalon trommeln Hare-Krishna-Anhänger, man trifft sich in den kleinen Läden der Latinos und Asiaten, bei Anti-Gentrifizierungs-Initiativen und Transgender-Versammlungen. Es ist die denkbar wildeste Mischung seit Erfindung von Multikulti, alles andere als das Paradies, aber die vitalste Utopie beim 72. Filmfest Venedig.
In der Ausstellung im Palazzo Benzon kann man die unverhoffte Nähe sogar ausprobieren, dank einer Live-Videoinstallation von Rashid Rana. In einem der altehrwürdigen Renaissance-Räume sieht man sich auf einer wandhohen Leinwand plötzlich Pakistanern gegenüber, die im selben Zimmer zu stehen scheinen. Hallo, wie geht’s, wir sind in Lahore, rufen sie ihrem Gegenüber im fernen Venedig zu. Auf der Stelle stecken sie einen an mit ihrer guten Laune.