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Frauen haben die Hosen an. Der Dokumentarfilm „Queen Lear“ von Regisseurin Pelin Esmer über eine Shakespeare-Laientruppe.
© Sinefilm

Die andere Seite der Türkei: Beim Filmfestival in Ayvalik sammeln sich Istanbuls Liberale

Das westtürkische Filmfestival ist ein Rückzugsort der AKP-Gegner. Den bedenklichen Zuständen des Landes entkommt man aber trotzdem nicht. Ein Besuch.

Nachts werden die Bürgersteige hochgeklappt in Ayvalik, einem türkischen Küstenstädtchen am Ägäischen Meer. Dann liegen die historischen Gassen im Dunkeln, und sie gehören den streunenden Katzen und schlafenden Hunden.

Einmal im Jahr aber gibt sich die Istanbuler Filmszene ein Stelldichein, dann sind die Bars und Cafés bis spät in die Nacht geöffnet. Gerade fand in dem beschaulichen Örtchen zum zweiten Mal das Ayvalak Filmfestival statt, in diesen Jahr unter dem Motto „Im Oktober ist Ayvalik anders“.

Wenn die Filmleute endlich ins Bett gegangen sind, kommen die Geflüchteten aus ihren Verstecken. In Sichtweite liegt die griechische Insel Lesbos, dort wollen sie hin. „Wir sehen sie nicht“, sagt Ercan, ein ehemaliger Börsenmakler, der in Ayvalik ein Hotel betreibt.

„Aber man hat die Küstenwache verstärkt. Wenn ich rausfahre, werde ich sowohl von türkischen als auch von griechischen Patrouillenbooten kontrolliert. Bei Tag ist es unmöglich, ungesehen nach Lesbos zu kommen. Alles, was wir über die Situation wissen, erfahren wir aus den Nachrichten.“

Ayvalik mit seinem milden Klima, dem sauberen Wasser und den strengen Denkmalschutzvorschriften ist für viele Istanbuler zum Rückzugsort geworden. Die jetzt 40- bis 50-Jährigen erinnern sich an den Ort als Kindheitsparadies und folgen jetzt einem Traum von damals.

Die türkische Mittelschicht kauft Häuser auf

Der historische Ort hat eine schwierige Geschichte: Seine Einwohner waren Opfer der griechisch-türkischen Auseinandersetzungen vor der Republikgründung 1923. Etwa 3000 solide Steinhäuser bestimmen das Stadtbild; sie wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von wohlhabenden griechischstämmigen Familien gebaut.

Die dreistöckigen Häuser verfügen über Natursteinsockel, dicke Mauern, schmiedeeiserne Tore, geflieste Böden, dicke hölzerne Türen.

Ihre Bewohner wurden Anfang der 1920er Jahre wie auch die türkischstämmigen Bewohner, die um Thessaloniki herum ansässig waren, vertrieben. Seit ein paar Jahren werden die Häuser von der wohlhabenden türkischen Mittelschicht gekauft und sorgfältig renoviert.

Atatürk ist hier unantastbar

Die Westtürkei gilt als liberaler als der Rest des Landes. Die Menschen geben sich mittels Fahnen, Fotos, Autoaufklebern oder im Gespräch als „Atatürkcü“, als Anhänger des Staatsgründers Mustafa Kemal zu erkennen, der das Land in den 1920er Jahren bis in die Sprache hinein modernisierte.

Das ist in Zeiten des konservativ-nationalen AKP-Regimes durchaus als oppositionelles Statement zu werten, denn die alte weltoffene, urbane, kemalistische Elite ist der historische Gegner der AKP.

Atatürk selbst aber ist noch unantastbar, und so ziert sein Konterfei, das vor zehn Jahren vor allem in Behörden zu finden war, jetzt die Wände in Restaurants, Friseurläden und selbst die hölzernen Karren der Gemüsehändler.

Die Errungenschaften der Republik galten als selbstverständlich

Die Rentnerinnen und Rentner der Mittelschicht, die noch im Geiste Atatürks erzogen wurden, werden die republikanische Generation genannt. Die meisten Frauen waren berufstätig, viele hatten studiert, bekamen ihre Kinder relativ spät. Die Türkei war so modern wie nie zuvor.

Deren Kinder waren in den 1960er und 1970er Jahren gelangweilt vom Atatürk-Fanatismus ihrer Eltern: Die Errungenschaften der Republik waren für sie selbstverständlich. Sie sind es jedoch, die sich seinen Idealen zunehmend wieder verpflichtet fühlen, jeder Autosticker ist ein Bekenntnis zur Demokratie.

Der wachsende Wohlstand in Ayvalik macht sich bemerkbar, die Existenz des Filmfestivals ist zum Beispiel einem Ehepaar zu verdanken, dem ein Strumpfhosenimperium gehört. Werben dürfen sie dafür nicht mehr, Frauenbeine auf Plakaten sind unerwünscht.

Das filmaffine Paar unterstützt nicht nur das Festival, sondern vor allem den Verleih „Baska Sinema“ (Anderes Kino). Deren Betreiber bringen internationale Arthouse-Produktionen in ausgesuchte Programmkinos. Die engagierte frühere Chefin des Istanbuler Filmfestivals, Azize Tan, hat hier eine neue Aufgabe gefunden.

Die kulturinteressierten Bewohner Ayvaliks strömen in die Vorstellungen und freuen sich über die Gelegenheit, mit den Filmemacherinnen sprechen zu können. Das Festival ist klein genug, dass man sich immer wieder über den Weg läuft.

Starrummel gibt es nicht, die Generationen mischen sich. Es wird, wie in der Türkei üblich, sehr viel geredet und auch, inzwischen nicht mehr so üblich, viel getrunken.

Das Festival stellt sich der politischen Realität

Tan resümiert: „Wir sind kein ausdrücklich politisches Festival, aber die Probleme sind doch da, offensichtlich für jeden. Und die Leute reden darüber, sie teilen ihre Erfahrungen mit, sie diskutieren, und das heißt doch, niemand erfindet das, sondern es ist die Realität, und der müssen wir uns stellen.“

Das Festival präsentiert 58 Filme in thematischen Sektionen. In der Reihe „Die Sünden der Väter“ laufen neue türkische Filme, deren Protagonisten sich den patriarchalen Strukturen widersetzen oder fliehen, interessanterweise häufig in den Wald.

„Peri – Agzi olmayan kiz“ (Peri – the Girl With no Mouth) erzählt von einer Kindergang, die sich in einer nahen Zukunft vor einem allmächtigen Regime in der Natur versteckt. Sie sind jeweils eines Sinnesorgans beraubt und aufeinander angewiesen, um zu überleben: eine leicht zu entschlüsselnde Parabel des jungen Regisseurs Can Evrenol.

Auch in Emre Yeksans „Yuva“ hat sich ein Mann in den Wald zurückgezogen, um der Zivilisation zu entfliehen. Als Arbeiter im Auftrag einer Baufirma mit der Abholzung beginnen, setzt er sich für den Schutz der Bäume ein.

Interessant ist in diesem Kontext ein Dokumentarfilm von Pelin Esmer, die eine Gruppe von Laiendarstellerinnen auf ihrer Tour durch Bergdörfer begleitet. „Kraliçe Lear“ (Queen Lear) ist eine Shakespeare-Parodie, in der die Schauspielerinnen mit ihren Figuren verschmelzen.

Die Frauen haben bei Esmer Hosen- und die Männer mitunter auch Kopftuchrollen. Das weibliche Ensemble gewinnt im Laufe der Tournee an Selbstbewusstsein und ermutigt die Frauen im Publikum, es ihnen gleichzutun. Ankara ist in solchen Momenten weit entfernt. Es wäre wünschenswert, dass andere Städte sich an Ayvalik ein Vorbild nehmen.

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