Wahlen in der Türkei: Die Macht der Mittelschicht
Eine historische Richtungswahl sollte es werden, eine historische Richtungsentscheidung ist es auch geworden. Am Votum der türkischen Wähler gibt es nichts zu deuten und nichts zu drehen – der Kampf um Ankara ist entschieden. Und jetzt?
Eine historische Richtungswahl sollte es werden, eine historische Richtungsentscheidung ist es auch geworden. Am Votum der türkischen Wähler gibt es nichts zu deuten und nichts zu drehen – der Kampf um Ankara ist entschieden. Und jetzt? Nach dem triumphalen Sieg von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP steht das Land noch immer vor seinen alten Konflikten – aber auch vor historischen Chancen, sie zu überwinden.
Erdogan hat jetzt ein klares Mandat, seinen in letzter Zeit erlahmten Reformeifer neu zu beleben. Mit der AK-Partei haben die türkischen Wähler die mit Abstand europafreundlichste Kraft in ihrem Land als Regierungspartei bestätigt. Trotz gewachsener Europa-Skepsis der Türken ist das ein klares Signal. Europa muss sich darauf einstellen, dass die Türken demnächst wieder energischer an die Tür der EU klopfen werden.
Langfristig bedeutender – auch für Europa – ist aber ein anderer Aspekt des Wahlausgangs. Das Ergebnis zeigt, dass die sozial und religiös konservative, zugleich aber wirtschafts- und europapolitisch reformfreudige Politik Erdogans eine breite Basis im Land hat. Das Historische an der Wahl vom Sonntag ist die endgültige Wachablösung der kemalistischen Eliten durch eine neue anatolische Mittelschicht. Diese Eliten haben in den vergangenen Monaten immer wieder vor der angeblichen islamistischen Gefahr gewarnt, die von Erdogan ausgehen soll. Die meisten türkischen Wähler glauben das ganz offenbar nicht.
Damit hat die Türkei die unvergleichliche Chance, ein neues Modell zu schaffen, das im Zeitalter der Angst vor einem Konflikt der Kulturen sehr wichtig werden könnte: eine lebendige Verbindung von westlicher Demokratie und islamischen Traditionen, die außerdem noch Wohlstand schafft. Das ist die Hauptaufgabe für Erdogan in den nächsten Jahren. Er muss seinen Bürgern und dem Westen zeigen, dass seine Art islamisch motivierter Häuslebauer-Mentalität auch über seine erste Regierungsperiode hinaus langfristig in der Lage ist, den Lebensstandard der Menschen zu heben, die Rechte der Bürger zu mehren und Konflikte innerhalb der Gesellschaft friedlich zu lösen.
Der erste Prüfstein dafür wird die Präsidentenwahl sein, die jetzt ansteht. Schon vor der Parlamentswahl kündigte Erdogan an, diesmal eine kompromissbereitere Haltung an den Tag zu legen als im Frühjahr, als er seinen Kandidaten Abdullah Gül mit der Parlamentsmehrheit seiner AKP allein durchsetzen wollte. Nun kommt es darauf an, dass er dieses Versprechen hält und trotz der gewaltigen Rückendeckung der Wähler den Kompromiss mit den anderen Parteien sucht.
Nicht nur darin liegt eine Chance für die Türkei. Erstmals seit den frühen neunziger Jahren sind wieder kurdische Politiker im Parlament von Ankara vertreten, die sich offen zu ihrer Volksgruppe bekennen. Ihre Präsenz eröffnet die Möglichkeit zu einem neuen Dialog zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Minderheit. Diese Vertrauensbildung könnte zwar schwierig werden, vor allem, weil auch die rechtsnationale Partei MHP als Befürworterin eines harten Kurses gegen die Kurden im Parlament vertreten sein wird. Doch immerhin haben die türkischen Wähler sowohl die Kurden als auch die Nationalisten ins Parlament gewählt – es ist gut und wichtig, dass die Volksvertretung die im Land vorhandenen Gegensätze und Meinungsunterschiede reflektiert. Nun ist es an den gewählten Vertretern der Türken, die neuen Chancen zu nutzen.
Ein Kommentar von Thomas Seibert