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Lemmy Kilmister bei einem Motörhead-Konzert 2010 in Madrid.
© imago

Nachruf auf Lemmy Kilmister: Begründer des Rock’n’Roll-Fundamentalismus

Lemmy Kilmister gab sich keinen Illusionen hin, seine Musik war mehr Ausdruck einer Lebenshaltung als Kunst. Am Montag ist der Motörhead-Frontmann gestorben. Ein Nachruf.

Seine Zeitgenossen brachte er mit einem einfachen Satz aus der Fassung: „I remember before there was rock’n’roll.“ Er wisse, wie es war, bevor es Rock'n'Roll gab.

Er meinte damit die Zeit vor Elvis und Little Richard. Und das entschuldigte natürlich vieles, was man an Lemmy Kilmister abstoßend finden konnte: den ohrenbetäubenden Lärm, die Trinkerei, das Eiserne Kreuz an seinem Hals, sowie die fortwährende Weigerung so etwas wie Vernunft anzuerkennen. Denn alles, was vor der Entstehung des Rock’n’Roll gelegen haben mochte, und keiner außer Lemmy war alt genug, sich leibhaftig zu erinnern, musste noch schlimmer gewesen sein. Dieser Mann war mit allem im Recht..  

Jedenfalls sollte man sich seiner erinnern als eines Rockmusikers, dem nicht etwa der Starruhm Recht gegeben hätte. Als ihm jemand die Single „Hound Dog“ vorspielte, war er 14 und begriff sofort die Tragweite von Elvis’ Verherrlichung des wütenden Hundes, der von der Kette gelassen worden war. Mit 29 gründete Lemmy dann Motörhead, um die Mission des King of Rock’n’Roll fortzusetzen, die härteste und lauteste Band, die es bis dahin gegeben hatte. Wie Elvis war auch Kilmister eine Zumutung für den zivilisierten Menschenverstand. Er verkörperte den provozierend hartgesottenen Außenseiter, der mit den langen Haaren eines Hippies daherkam, das Hemd bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, dessen Koteletten in einen Schnauzbart übergingen und dürre Beine in klobigen Motorradstiefeln steckten. Der sich keinen Illusionen hingab und ständig davon sang, dass das Schlimmste, das man sich vorzustellen vermochte, auch ganz sicher eintreten würde. So wurde er zur Ikone des Rock.

Ach, Rock.

Wer den Reiz dieser Musik zu beschreiben versucht, spricht gerne von Energie, von Authentizität, von der überwältigenden Kraft des animalischen, unangepassten Lebens. Gemeint ist eine Kultur der Überbietung, die in ihrem Bestreben, härter, diabolischer und kaputter zu sein, erst Hardrock und darauf Heavy Metal sowie seine Verfeinerungen in Thrash-, Death-, Dark- und Doom-Metal ausgebildet hat. Darüber ist wenig mehr von ihr übrig geblieben als eine dümmliche Hülle. Der, ach, so rebellische Gitarrenlärm ist an Poser, an die Gernegroßen, die Fratzenmenschen und ambitionierten Techniker gefallen.

Und hätte es nicht Lemmy gegeben, man würde gar nicht verstehen, warum gute Popmusik wahrlich eine Charakterfrage ist. Denn sie erzählt in ihren großen Momenten vor allem davon, wie jemand mit seinem Leben fertig wird. Egal, wie laut oder triumphal, gebildet oder verletzlich sie sich gerade gibt.

Nur sehr wenige in diesem Milliarden-Dollar-Geschäft haben sich auf Dauer den Klischees seiner Vermarktung entzogen. Lemmy gehörte zu diesen Wenigen. Er sei „eine Mischung aus Biker, Musiker und dem Typen von der Waschanlage“, meinte Billy Bob Thornton einmal. Für die Popkultur war er so bedeutsam wie Elvis Presley. Während der King die Jugend von den Zügeln der Sittlichkeit befreite, bahnte Lemmy ihr den Weg in die Niveaulosigkeit. Sein Angebot: die hemmungslose Unterschreitung kultureller Standards.

Er selbst hat das in seiner Autobiografie „White Line Fever“ in die unvergleichlichen Sätze gegossen: „Scheiß auf sie. Und scheiß auf die hohen Rösser, auf denen sie daher kommen.“

Etwas Blasphemisches war Lemmy früh eigen

Lemmy Kilmister, Bassist und Sänger der Band Motörhead 2014 in Wacken.
Lemmy Kilmister, Bassist und Sänger der Band Motörhead 2014 in Wacken.
© Axel Heimken/dpa

Lemmy dachte dabei an seinen Plattenfirmenboss, der ihn nicht grüßte, als Motörhead 1991 erstmals für einen Grammy nominiert waren; er hatte die Stewardess im Sinn, die ihm kurz vor dem Start verbieten wollte, aus seiner eigenen Jack-Daniels-Flasche zu trinken; er bezog es auf seinen Vater, der ihn erst 25 Jahren lang ignorierte und dann, aus der Versenkung auftauchend, zu einer Vertreter-Laufbahn überreden wollte. Und wahrscheinlich meinte Lemmy einfach alle, die nicht ehrlich zu sich selbst sein konnten. „Es umgibt Arschlöcher eine servile Freundlichkeit“, sagte er vor Jahren in einem „SZ“-Gespräch, „Und zur selben Zeit etwas Umtriebiges. Es umgibt sie gleichzeitig dieses Unerwünschte. Als spiegele sich in ihren Augen das Unwohlsein, das sie bei anderen auslösen.“ Was auch immer für Regeln sie befolgten, er verwarf sie.

Menschen können allerdings nicht ohne Regeln leben. Das leugnete auch Lemmy nicht. Die weit verbreitete Bewunderung für diesen Mann, gründete deshalb darin, dass er seine eigenen Regeln hatte und glaubhaft machte, dass es die besseren waren.

Als Ian Fraser Kilmister am Heiligabend 1945 auf die Welt kam, war er ein Kind des Weltkriegs, der neun Monate zuvor zu Ende gegangenen war. Sein Vater, ein Feldkaplan der Royal Navy, verließ die Mutter bald darauf, so wurde der Junge von den Frauen der Familie aufgezogen, was ihn später sagen lassen sollte, dass er Frauen sehr viel besser verstehe als viele andere Männer und sich Frauen gegenüber stets galant benehme. Dass er mit etwa Tausend Frauen geschlafen haben soll, gehört zu den von ihm selbst genüsslich gepflegten Legenden. Die „New York Times“ wollte wissen, ob er bei Eintausend aufgehört habe. Da meinte er trocken: „Man hört doch nicht bei Tausend auf, würden Sie?“ Und als sich einmal auch ein Mann in sein Bett verirrte, sagte er sich, was soll’s, wenn er nun schon mal hier ist ...

Aber Sex war dann auch etwas, von dem er meinte: „nicht wichtig“. Es gab in seinem Wesen eine Ebene, zu der niemand vordrang. Die versteckten Kammern des Kindes, das für sich selbst sorgen musste, weil die Mutter einen neuen Mann geheiratet und weitere Kinder mit diesem bekommen hatte. Er überspielte seine Verletzlichkeit. Er trank sie vielleicht einfach weg. Aber er war der Typ, der die höchste aller Tugenden beherzigte: In seiner Umgebung durfte man sich wohl fühlen.

Lemmy war in eine erschöpfte britische Standesgesellschaft hineingewachsen, die ihre Standards nicht mehr aufrechterhalten konnte, dem vaterlosen Provinzjungen jedoch signalisierte: Nach oben kommt einer wie du nicht. Der kleine Kilmister war ein schlaues Kind, kapierte schnell. Er kultivierte bald ein Verhalten, das erst recht keinen Standards mehr genügte. Er soff hingebungsvoll, gebärdete sich als rauffreudiger Rocker mit abgeschnittenen Jackenärmeln und begann, Nazi-Devotionalien zu sammeln, die Symbole des Kriegsgegners. Seinen englischen Landsleuten signalisierte er mit jeder Faser, ihr habt den Krieg gewonnen, aber alles, was danach kam, ich.

In seinem mit Dolchen, Hakenkreuzwimpeln- und Standarten, mit Degen und Orden vollgestopften zwei-Zimmer-Appartement soll neben dem Bild seiner innig verehrten Mutter eine Serviette Hitlers hinter Glas gehangen haben. Er hat das stets als unschuldige Sammelleidenschaft abgetan. Dinge wechselten einfach den Besitzer, sagte er. Man ließ es ihm durchgehen, wenn auch aus der deutschen Version der preisgekrönten „Lemmy“-Dokumentation die Passage entfernt wurde, in der man ihn auf einem historischen Wehrmachtspanzer durch die Hügel Kaliforniens rumpeln sieht. Er trägt die schwarze Fantasieuniform eines Landsers, ein Operetten-General, der sich mit den Machtsymbolen des Bösen schmückt.

Ist es nicht eine der ältesten Kulturtechniken des Abendlandes, erprobt seit Aischylos‘ antiken Tragödien, sich mit jenen zu identifizieren, die auf der falschen Seite stehen? Lemmy übernahm diesen Part, ohne es wie eine Kulturtechnik aussehen zu lassen. Wie man hört, soll er zuletzt an einer Lemmy-Horror-Picture-Show namens „Gutterdämmerung“ gearbeitet haben, Panzer und Erzengel inklusive.

Etwas Blasphemisches war ihm früh eigen. Mit seiner ersten Band, The Rockin’ Vicars, hatte er Mitte der Sechziger als Gitarrist einigen Erfolg. Doch war er wohl eher der mittelbegabte Enthusiast, der die Nähe richtiger Musiker suchte. So wurde er 1967 Roadie für Jimi Hendrix, schleppte technisches Gerät, badete in Groupies. Und so kam er 1972 zu der psychedelischen Art-Rockband Hawkwind, mit der er als Bassist mehrere Platten aufnahm, bevor sie ihn wegen seines ausdauernden Drogen-Konsums rausschmiss. Dabei waren wohl weniger die Drogen an sich ein Problem als die Tatsache, dass jeder bei Hawkwind andere nahm. Die Hippies zogen sich Pilze und Pot rein, Lemmy dagegen Speed. Bewusstseinserweiterung? Vergiss es.

Gerade als Pop in seine Extreme zerfiel, in Punk einerseits und Disco andererseits, wurde Lemmy zum Begründer eines Rock’n’Roll-Fundamentalismus. Seine Band Motörhead wandte sich ab von den Idealen der Hippiewelt und den schwülstigen Rock-Opern der Siebziger. Motörheads „Speedfreak-Rock’n’Roll“ wollte lauter, schneller, dröhnender, ,metallischer‘ sein als alles Bekannte, „der Dritte Weltkrieg in einer Telefonzelle“, wie Lemmy schmunzelnd erklärte. Wobei er seinen Bass wie eine tiefergelegte Rhythmusgitarre anschlug, er riss die Saiten mit seinem Plektron so scharf an, dass sie schepperten wie eine Stahlwanne voller Schrott. Als Sänger gewöhnte er sich an, das Mikrophon über Kopfhöhe anbringen zu lassen, so dass er den Kopf weit in den Nacken strecken musste, um seine gurgelnden Brülllaute ins Publikum zu schicken. Es heißt, er habe nur das Desinteresse der Zuschauer nicht mehr sehen wollen.

Wie dem auch sei – die radikale Reduktion der Rockmusik auf ihre Urmuster, auf schwarze, schmucklose Klamotten, so dass der Kern des Ganzen wieder lesbar wurde, machte Lemmy zu einem der Urväter des Heavy Metal.

Lemmy überspielte seine Verletzlichkeit

Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister ist im Alter von 70 Jahren gestorben.
Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister ist im Alter von 70 Jahren gestorben.
© Andreas Gebert/dpa

Doch schon 1977, nach einem ersten Album, war die „beste schlechteste Band der Welt“ („NME“) so gut wie erledigt. Das Trio rieb sich auf für nichts. Ein Abschiedskonzert sollte es noch geben, aber weil das nicht aufgezeichnet werden konnte, räumte man ihnen drei Studiotage ein. Daraus wurden 13 Songs, ein weiteres Album, ein weiterer mühsamer Anlauf. Erfolg stellte sich erst 1979 mit „Overkill“ ein. Darin formulierte Lemmy sein Lärm-Manifest: „Only way to feel the noise / Is when it’s good and loud / So good I can't believe it / Screaming with the crowd.”

Nach diesem Prinzip sind etwa 30 Studioalben entstanden. Immer dieselben Songs mit anderen Texten, viele nur beschleunigte Versionen traditioneller Elvis-Nummern. Lauter natürlich, brutaler. Gespielt in dem Bewusstsein, dass es eines gewissen Irreseins bedarf, wie seine Vorbilder Elvis, Little Richard und Jerry Lee Lewis ihn in sich trugen, um in dieser Welt klar zu kommen. Lemmys Leidenschaft für Rockabilly ließ ihn sich zeitweilig einer Tribute Band namens The Head Cat anschließen. 

Nach einigen Umbesetzungen spielte Motörhead ab 1992 mit Gitarrist Wizzö Campbell aus Wales und dem schwedischen Drummer Mickey Dee gegen den Anachronismus der Harte-weiße-Männer-Musik an. Dass sie trotz des elektronischen Siegeszuges für jüngere Generationen interessant blieben, hatte mit dem Scheiß-drauf-Gestus zu tun, der sie für Punks, Rocker, Surfer und Skater gleichermaßen attraktiv machte. So bereitete Motörhead den Weg für Bands wie Metallica und Slayer, die später viel berühmter werden sollten. Metallica sagen sogar, Lemmy sei „einer der Hauptgründe, warum es die Band gebe“.

Hits gelangen Motörhead fast nie. Nur „Ace Of Spades“ ragte aus der Lärmkruste heraus. „You win some, lose some, it’s all the same to me”, fasste Lemmy seine Lebensphilosophie in einem Satz zusammen. In seinen Stücken sprach er über eine mitleidlose Welt voller Drogensucht und Heimtücke. Menschen machten sich fertig, weil sie es miteinander nicht aushielten. „Stepping out, I'm leaving here / No use crying, crying in my beer”, sang er in “Bite The Bullet”. Dabei konnte er die Dinge durchaus von ihrer romantischen Seite sehen: “I was talking to you all night long / Every line was a favourite song.” Er sang über schwarze Reiter, die einem in den Rücken schießen. Und flehte Mädchen an, ihn bei sich aufzunehmen, statt beim Anblick seiner Warzenvisage Reißaus zu nehmen.

Aber man musste die Songs kennen, um die Worte zu verstehen. Lemmys Rockröcheln entzog der Sprache sämtliche Konsonanten und allen Sinn. Die Musik war mehr Ausdruck einer Lebenshaltung als eine Kunst, die das Leben interpretiert. Und sie war eben von dem, der sie machte, nicht zu trennen. „All I know is who I am“, grölte Lemmy auf der letzten Motörhead-CD „Bad Magic“, die im vergangenen Jahr herausgekommen war, das Geheimnis seines Erfolges lüftend: in absoluter Selbstsicherheit zu handeln.

Dass sein Körper die Sollbruchstelle dieses Lebensentwurfs war, hat Lemmy stets mit der Geste des Selbstvergiftungsmagikers beiseite gewischt. So lange man keine tödlichen Drogen nehme, sei alles in Ordnung, sagte er. Heroin, die Rocker-Droge Nummer eins, fasste er nie an, nachdem er eine frühere Liebe mit einer Überdosis tot in der Badewanne gefunden hatte. Wenn man seinen Köper einäschere, frotzelte er, würde das Krematorium in die Luft fliegen. In Los Angeles, wohin er 1990 zog, langweilte er sich meistens, ging ins Rainbow, um dort stundenlang auf einen Spielautomaten zu starren, den sie ihm auf die Theke gestellt hatten. Bis zuletzt trank er. Als ihm Anfang 2014 wegen seiner Herzrhythmusstörungen ein Defibrillator eingesetzt wurde, trank er weniger. Ein Schwächeanfall beim Wacken-Festival zeigte ihm seine Grenzen auf. Das fand er mies.

Schmal, dünnhäutig sah er schließlich aus, abgekämpft. Aus dem hünenhaften, breitbeinigen, Whisky-Flaschen schwenkenden Rocker war ein Männlein mit zu großem Hut geworden. Aber der Mann darunter zeigte Größe. Er war schon immer ein Minimalist des Rock gewesen. Keine Geste zu viel.

Zum Schluss war nur noch ein Rest von ihm übrig. Jedes gesundheitliche Problem hätte den Zuckerkranken einfach ausblasen können wie ein Kerzenlicht. Am 28. Dezember ist es geschehen. Lemmy war gerade erst 70 Jahre alt geworden, als er von einem aggressiven Krebs in sich erfuhr. Danach ging es sehr schnell.

Er war ein guter Ratgeber. Was zu beachten sei, wenn man sich tätowieren lasse, wurde er mal gefragt. „Nimm niemals Donald Duck als Motiv.“

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