Roman "Gräser der Nacht" von Patrick Modiano: Bald schon bin ich alt
Ewig auf der Lauer: In seinem neuen Roman "Gräser der Nacht" erzählt Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano die Geschichte einer kurzen, dunklen Liebe in den Sechzigern.
Wer einen Roman von Patrick Modiano liest, macht oft dieselbe Erfahrung wie viele seiner Helden: Die Zeit verschwimmt, Vergangenheit und Gegenwart gehen ineinander über, und ob dieser Modiano-Roman nun aus den siebziger Jahren stammt oder ein ganz aktueller ist, gerät bei der Lektüre schnell in Vergessenheit. Es gibt sowieso nur zwei Epochen, die in Modianos großen Romanwerk eine Rolle spielen: die Zeit der Okkupation von Paris durch die Deutschen. Und die mittleren sechziger Jahre, in denen der 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geborene Schriftsteller ein junger Mann war. Seit seinem Debüt „Place de L’ Étoile“ von 1967 dient Modiano die Gegenwart in seinen Büchern vor allem dazu, sich Erinnerungen hinzugeben, Namen und Orte vor dem Vergessen zu bewahren und beim Streifen durch die Straßen von Paris einstige Stadtlandschaften zu imaginieren. „Seit ich an diesen Seiten schreibe“, so der Ich-Erzähler Jean in Modianos Roman „Gräser der Nacht“, „sage ich mir, dass es doch ein Mittel gibt, gegen das Vergessen anzukämpfen. Du musst nur in gewisse Zonen von Paris gehen, in denen du seit dreißig, vierzig Jahren nicht gewesen bist, und einen Nachmittag lang dableiben, als würdest du auf der Lauer liegen.“
Nachdem Patrick Modiano im Oktober der Literaturnobelpreis zugesprochen worden war, erscheint „Gräser der Nacht“, 2012 im Original veröffentlicht, früher als geplant auf Deutsch – und ist dennoch nicht der aktuellste Roman von Modiano. Kurz vor Bekanntgabe des Nobelpreises erschien von ihn ein weiterer, „Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier“, bei uns für den Herbst 2015 angekündigt. „Gräser der Nacht“ eignet sich jedoch gut als Modiano-Einstiegslektüre, wie eigentlich jeder seiner Romane; das Buch hat aber den Vorzug, eine Idee autobiografischer zu sein als die Vorgänger „Der Horizont“ und „Café der verlorenen Jugend“.
"Haben wir das Recht über jemanden zu urteilen, den wir lieben?"
Held dieses Romans ist eben jener Jean, ein Schriftsteller, der sich gleich zu Beginn zweimal fast flehentlich versichert, nicht zu träumen (was er später noch sehr ausgiebig tun wird), sondern er sich ganz real und zwar mit Hilfe seines schwarzen Notizbuches einer Zeit in den sechziger Jahren erinnert. In dieser lernt er an der Universität eine junge Frau namens Dannie kennen und lieben und mit ihr eine Reihe etwas seltsamer, zwielichtiger Gestalten, die Paul Chastagnier und Gérard Marciano heißen, Aghamouri, Duwelz oder Georges, und allesamt Verbindungen nach Marokko zu haben scheinen. Dazu kommt noch ein Polizeiinspektor, Langlais, der Jean eines Tages zu seinen neuen Bekannten verhört und den er dann zwanzig, dreißig Jahre später wiedertrifft. Langlais gibt ihm die Akte der Leute, „deretwegen Sie in meiner Dienststelle am Quai de Gesvres verhört worden waren“. Für Jean kommt dabei ein wenig Licht in das Dunkel, das ihn seinerzeit, bei aller Liebe, in der Gegenwart von Dannie und gerade auch ihren Bekannten umgeben hat.
Trotzdem ist ihm an diesem Licht gar nicht so sehr gelegen, an der präzisen Aufklärung der „üblen Geschichte“, in die sie alle verstrickt waren, nicht zuletzt Dannie, die mehrmals ihren Namen wechselt. „Es zählte einzig und allein, dass wir die Quais entlanggingen, ohne irgendwen um Erlaubnis zu bitten und ohne irgendwas hinter uns zurückzulassen.“. Und als Dannie Jean fragt, was er sagen würde, wenn sie einen Mord gestände, antwortet er: „Nichts“. Denn, so seine Gegenfrage: „Haben wir das Recht, über die zu urteilen, die wir lieben?“
"Gräser der Nacht", eine üble Geschichte
Die „üble Geschichte“, die den realen Hintergrund von „Gräser der Nacht“ bildet, ist die Entführung und nachfolgende Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka im Spätherbst des Jahres 1965 in Paris, in die auch französische Polizei- und Geheimdienstkreise verstrickt waren. Für das Verständnis des Romangeschehens spielt diese Geschichte keine größere Rolle. Modiano geht es wie stets viel mehr um bestimmte Stimmungen, um die Vermischung von erinnerter Realität und Träumen, um Namen und Orte, die es heraufzubeschwören gilt, darum, wie Jean durch Pariser Viertel und Straßen driftet, mal mit, mal ohne Dannie: in den sechziger Jahren, zwanzig Jahre später und jetzt, da er dies schreibt.
Das Verhältnis von Fiktion und eigener Biografie ist dabei ein kompliziertes, vielschichtiges. An manchen Stellen wirkt „Gräser der Nacht“, als würde Patrick Modiano quasi ungeschützt, jenseits der Fiktionen, Auskunft über seine Schreiben geben: „Die Zeit ist aufgehoben“, heißt es einmal, „und alles beginnt von neuem: wie früher, mit der gleichen Art Füllfeder und mit der gleichen Schrift, kritzle ich die Seiten voll und befrage dabei wieder die Aufzeichnungen in meinem alten schwarzen Notizbuch.“ Oder an einer anderen Stelle: „Aber ich kann nichts dafür, damals war ich genauso empfänglich wie heute für Menschen und Dinge, die im Begriff sind zu verschwinden.“
Patrick Modiano arbeitet mit bekannten Namen und Figuren
Dazu kommt, dass Modiano einmal mehr mit bekannten Namen und Figuren arbeitet. Duwelz kommt in dem Roman „Ruinenblüten“ und seiner Autobiografie „Ein Stammbaum“ vor. Als „blond, fünfundreißigjährig, Schnurrbart und Glencheckanzüge“ wird Duwelz dort beschrieben, „ein Betrüger, gegen den ein Haftbefehl vorlag“; auch der Name Gérard Marciano taucht in „Ein Stammbaum“ auf, insbesondere aber Langlais, der einst bei der Sittenpolizei arbeitete und den jungen Patrick Modiano verhörte, weil dieser als Rauschgiftsüchtiger und Drogenhändler denunziert worden war.
Es dürfte also stimmen, dass „alle Personen, von denen ich spreche, gelebt haben. Ich treibe die Genauigkeit sogar so weit, sie mit ihrem richtigen Namen zu nennen“, wie Modiano einmal geschrieben hat. Nur werden sie natürlich fiktionalisiert; und führen genauso ein Eigenleben in diesen Büchern wie die aus der französischen Literatur bekannten Figuren, denen Modiano in der Person seines Ich-Erzählers Referenz erweist: von dem Lyriker Tristan Corbière, dessen Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Verse Jean bewundert, über den 1965 verstorbenen Schriftsteller Jaques Audiberti, der einst ein Gedicht mit dem Titel „Dannie“ schrieb und in „Gräser der Nacht“ auch einen Cameo-Auftritt hat, bis hin zu Baudelaires Geliebter Jeanne Duval, über die Jean später eine Biografie verfasst und von der er eines Tages in einem Antiquariat eine Wiedergängerin zu sehen meint.
Modianos sanft schwebende Prosa
Man muss all das nicht enträtseln können, um Vergnügen an der Lektüre dieses Romans zu haben. Dafür sorgt allein diese sanft schwebende Prosa Modianos, dieser zwischen dem Glück des Erinnerns und der Trauer über die verlorene Zeit changierende Ton, die sich auch in der Übertragung ins Deutsche von seiner inzwischen angestammten Übersetzerin Elisabeth Edl aufs Beste vermitteln. Modiano verschiebt die Zeitebenen so geschickt, dass die Übergänge kaum zu bemerken sind – und in dieses Bild passt auch der schön poetische Abschiedsbrief, den Dannie ihrem Jean am Ende schreibt und in dem sie ihm im Nachhinein gesteht, nicht 21, sondern 24 Jahre alt zu sein: „Du siehst, bald schon bin ich alt.“ Der Brief stammt nicht von Dannie selbst, sondern aus einem alten Roman, den sie und Jean bei den Bouquinisten an den Ufern der Seine gekauft hatten.
Patrick Modiano: Gräser der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2014. 175 Seiten, 18, 90 €.
Gerrit Bartels