Cannes Film Festival 2019: Zombies im Trump-Land eröffnen Filmfestspiele
Mit einer Komödie von Jim Jarmusch startet das 72. Filmfestival in Cannes. Querelen gab es um den Umgang mit weiblichen Filmschaffenden und mit Netflix.
Eine Einladung für die Eröffnung des Cannes-Filmfestivals gehört neben einem Gästelistenplatz für die Oscar-Verleihung zu den begehrtesten Tickets der Branche. Die einzigartige Mischung aus Glamour, Kunst und Geschäft hat nach über 70 Jahren nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt, auch wenn das Kino as we know it wahrlich schon bessere Zeiten erlebt hat. Doch am Dienstagabend bleibt im Grand Théâtre Lumière, in dem Jim Jarmuschs Zombie-Komödie „The Dead Don’t Die“ die 72. Ausgabe des Festivals eröffnet, ein Platz leer.
„Agnes V.“ steht auf dem Regiestuhl, der mitten auf der Bühne platziert ist: eine liebevolle Hommage an die gute Seele des französischen Kinos, Agnes Varda, die Ende März mit 90 Jahren starb. Sie hinterlässt eine große Leerstelle im Kino und an der Croisette, wo 13 ihrer Filme Premiere feierten – auch wenn ihr Werk, das bis zuletzt von einer ansteckenden Lebensfreude erfüllt war, längst unsterblich ist.
Das Festival hat Agnes Varda auch das diesjährige Poster gewidmet. Es zeigt die Regisseurin bei den Dreharbeiten an ihrem Debüt „La Pointe Courte“, das 1955 in Cannes lief: Die kleine Varda steht auf dem Rücken eines namenlosen Technikers, um einen Blick durch die Kamera zu erhaschen. Ein Manifest für das Kino der unermüdlichen Filmemacherin, ihre Leidenschaft, ihren Erfindungsreichtum, ihre Verschmitztheit, wie es im Begleittext heißt. Eine schöne Geste des Festivals, das traditionell ein nicht unproblematisches Verhältnis zu weiblichen Filmschaffenden pflegt. Auch dieses Jahr.
Den Ehrenpreis erhält die französische Ikone Alain Delon, der in den vergangenen Jahren keinen Hehl daraus machte, das es okay ist, gegenüber Frauen handgreiflich zu werden. Das verträgt sich nur schwer mit dem Bekenntnis für mehr Genderparität, zu dem sich Cannes schon 2018 verpflichtete. Auch in diesem Jahr konkurrieren nur vier Regisseurinnen um die Goldene Palme (eine mehr als im Vorjahr), drei von ihnen aus Frankreich. Auf diesen Missstand immer wieder hinzuweisen, ist ebenso ermüdend wie die anhaltende Netflix-Debatte, die inzwischen allerdings merklich abgekühlt ist. Der US-Streamingdienst hat erneut keinen Film an der Croisette. Die Konkurrenz in Venedig wird das erfreut zur Kenntnis nehmen.
Kino als Ort „sozialer Erfahrung“
Etwas mehr Sachlichkeit bringt Jurypräsident Alejandro González Iñárritu am Eröffnungstag in die Debatte. Auf der Pressekonferenz der Jury – in der unter anderem Kelly Reichardt, Alice Rohrwacher, Yorgos Lanthimos, Pawel Pawlikowski und Robin Campillo aus dem Regiefach sowie die Schauspielerinnen Maimouna N’Diaye und Elle Fanning sitzen – verteidigt der Regie-Auteur Iñárritu in einer kurzen Grundsatzrede, die ihm sichtlich unter den Nägeln brennt, einerseits das Kino als Ort „sozialer Erfahrung“. Und weist gleichzeitig auf die privilegierte Situation der Filmkritik hin, die zwölf Tage unter der Sonne Südfrankreichs die Creme de la Creme des Weltkinos goutieren darf. Filme, von denen es ein Großteil nie bis in seine Heimat Mexiko schafft, wo es heute kaum noch Arthousekinos gibt. Iñárritu plädiert dafür, Netflix als Partner, nicht als Feind zu betrachten. Vor zwei Jahren klang das aus dem Mund des damaligen Jury-Vorsitzenden Pedro Almodóvar, der ebenfalls mit einem neuen Film in Cannes ist, deutlich unversöhnlicher.
Die Abhängigkeit von der US-Filmbranche ist in diesem Jahr so augenscheinlich wie vielleicht nie zuvor. Als Maßstab für die hohe Qualität des internationalen Autorenkinos bleibt Cannes weiterhin unangefochten der Goldstandard. Zum diesjährigen Klassentreffen reisen unter anderem wieder Quentin Tarantino, Terrence Malick, die Dardenne-Brüder, Xavier Dolan, Ken Loach, Bong Joon Ho, Abdellatif Kechiche und Céline Sciamma an. Doch die Starpower von Cannes teilen sich im Prinzip die beiden einzigen Hollywood- Produktionen im Wettbewerb (das Elton-John-Biopic „Rocketman“ läuft außer Konkurrenz): Tarantinos Sixties-Hommage „Once Upon a Time... in Hollywood“ und der Eröffnungsfilm, der ein eindrucksvolles Darstellerensemble über den roten Teppich weht, darunter Bill Murray, Tilda Swinton, Adam Driver, Chloë Sevigny und Selena Gomez. Der 26-jährige Popstar Gomez bringt eine gewisse Hipness in den retropatinierten Kosmos des Lower-East-Side-Avantgarden Jarmusch, was seine selbstreflexive Zombie-Farce dann auch prompt als Running Gag ausschlachtet.
Der Witz ist eher zu erahnen
Mit einer starbesetzten Zombie-Komödie im tiefsten Trump-Land („A Real Nice Place“ steht auf dem Ortsschild der 738-Seelen-Gemeinde Centerville) kann man als Eröffnungsfilm an der Croisette eigentlich nicht viel falsch machen – dachte sich sicher auch Cannes-Chef Thierry Frémaux. Aber das Ensemble von „The Dead Don’t Die“ erweist sich leider schnell als Bürde, weil Jarmusch sich zu sehr auf die Chemie seiner Darsteller und den Spaß am Set verlassen hat. Der überträgt sich allerdings nur sehr zögerlich auf den Film. Der Witz ist in dem überaus nachlässigen Drehbuch eher zu erahnen, als dass er einen Funken erzeugt, der aufs Publikum überspringt. Meistens klatscht er einem nur mitten ins Gesicht.
Murray, Driver und Sevigny spielen drei Kleinstadtpolizisten, die sich mit einer Zombie-Invasion konfrontiert sehen, während sie relativ hilflos darum bemüht sind, die zivile Ordnung aufrechtzuerhalten. Steve Buscemi, selbst schon eine Art Lower-East-Side-Zombie aus dem äußeren Jarmusch-Orbit, trägt eine rote Baseballcap mit dem Schriftzug „Make America White Again“, während er mit Danny Glover am Tresen des lokalen Diners Zeit totschlägt. Die Untoten von Zombievater George A. Romero, der in „The Dead Don’t Die“ ausgiebig zitiert wird, besaßen deutlich mehr Finesse in ihrer Gesellschaftskritik. Aber so richtig ernst ist es Jarmusch mit der Politik ohnehin nicht. Er gehört in Hollywood zu den wenigen Regisseuren, die sich einen Status verdient haben, der ihm schier grenzenlose Freiheiten gibt. „Liefern“ muss Jarmusch schon lange nicht mehr, stattdessen arbeitet er sich mit ausladendem Laissez-faire an seinen Privatobsessionen ab. Meistens, wie in dem elegant-schäbigen Vampirfilm „Only Lovers Left Alive“ oder dem somnambulen Kleinstadtpoetendrama „Paterson“, sogar mit großem Gewinn.
Das gilt für „The Dead Don’t Die“ nur bedingt, was sicher auch daran liegt, dass das Zombie-Genre inzwischen seine eigene Meta-Mythologie hervorgebracht hat. Jarmusch hat dieser nichts mehr hinzuzufügen, außer einigen müden Popkultur-Witzchen und Bill Murrays charakteristischer Stoik (die der allerdings in „Zombieland“ auch schon besser verkauft hat). Irgendwann beginnt man sich zu fragen, warum die Coen-Brüder – cineastische Chirurgen, wenn es um das Sezieren von Kino-Mythologien geht – nie einen Zombiefilm gemacht haben. Jarmusch hat (immerhin) Tilda Swinton, die sich als Samurai-Leichenbestatterin mit schottischem Akzent und „Vogue“-Abo – 100 Schminktipps für das Leben nach dem Tod – mit scharfer Klinge durch die Reihen der Untoten metzelt.
Aber Eröffnungsfilme, das gilt für Cannes wie für Berlin und Venedig, funktionieren nach eigenen Gesetzen. „The Dead Don’t Die“ steht für die Sorte von höherem Unsinn, der in Cannes gewöhnlich in die Nebensektionen „Un Certain Regard“ oder „Quinzaine des Réalisateurs“ abgeschoben wird. Ohnehin repräsentiert Jarmusch ein Kino, das zunehmend unter Artenschutz steht; das sich weder von Zielgruppenumfragen noch von User-Algorithmen einhegen lässt. Und für das sich Cannes in den kommenden Jahren vermutlich noch stärker einsetzen muss, damit es überhaupt noch Chancen auf einen Auftritt auf dem roten Teppich bekommt. Alles gut also. Das Filmfestival von Cannes beginnt mit einer Zombie-Invasion. Die umtriebigen Smartphone-Zombies, die sich entlang der Croisette ausschließlich zwischen Geschäftsessen und Meet-and-Greets in schattigen Hotelsuites bewegen, haben davon vermutlich ohnehin nur in der Branchenpresse gelesen.