China beim Poesiefestival: Aus der Wut sprießen die Wörter
Ein chinesischer Abend beim Poesiefestival unter dem Motto „Elegie und Aufbruch“ – und Ai Weiwei spricht über Filme als Gedichte.
China verdankt ihnen seinen rasanten Aufstieg. Ohne die geschätzt drei Millionen Wanderarbeiter, die ihre angestammte Heimat verlassen und in den Industriemetropolen an der Ostküste geschuftet haben, wäre China heute kein Global Player, würde nicht ebenbürtig neben einer Angela Merkel am Verhandlungstisch sitzen und Donald Trump austricksen. Doch das Geschäftsmodell Billigware hat in China ausgedient, das Reich der Mitte rüstet sich für die Hochtechnologie, und Chinas Unterschicht wird aus den Städten vertrieben und zurück aufs Land geschickt, schon 2015 wurden 1,2 Millionen Rückkehrer, gezählt. „Die Wanderarbeiter repräsentieren die niedrigste soziale Stufe in China und arbeiten für niedrigste Löhne und hohe Profite für die ganze Welt“, sagt Yang Lian. Und es gibt nicht wenige unter ihnen, die dichten.
Der 1989 ausgebürgerte chinesische Dichter, der in Berlin lebt und inzwischen die australische Staatsbürgerschaft besitzt, zeigt sich stolz, neben Ai Weiwei zu sitzen, dem wohl berühmtesten chinesischen Exil-Künstler – und einer eben solchen, hierzulande noch nicht so bekannten dichtenden Wanderarbeiterin, Zheng Xiaoqiong.
„Elegie und Aufbruch“ war das Motto einer von Claudia Kramatschek moderierten und von Susanne Becker-Gonnella souverän gedolmetschten Veranstaltung auf dem 19. Poesiefestival, die die verdichteten Gefühle und Erfahrungen dieser Underdogs näherzubringen versuchte. „eine endlose reihe von reihe von menschen, deren schicksal/identisch mit deinem ist/sie kennen den grund ihrer krankheit nicht/verlassen die städte, die anderen gehören, gehen in ihre dörfer zurück/wo sie ihre schmerzen ertragen/und leise sterben“, heißt es in Zhengs Gedicht „Xu Rong“, das von den „zerbrochenen Körpern“ der Arbeiterinnen handelt.
Ai Weiwei wollte seine Film „wie ein Gedicht“ komponieren
Die 1980 in der südwestlichen Provinz Sichuan geborene Dichterin verschlug es 2001 nach Dongguan, wo sie sechs Jahre in einer Metallwarenfabrik arbeitete. In dieser Zeit begann sie, ihre Erlebnisse in Gedichten zu verarbeiten: „sie holt eine freifläche aus ihrem körper/in der sie gesundheitsschäden und wut vergräbt/in die sie helle wörter pflanzt/sicher, ruhig, entschieden“, beginnt „Ein Theaterstück“. Die nomadische Suche nach Arbeit hatte in Zhengs Familie Tradition, schon ihr Vater machte sich tausende Kilometer auf den Weg, um Geld zu verdienen und seinen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, blieb aber „abhängig von der Erde und was sie hergab“.
Man hätte gerne mehr gehört von Zhengs persönlichen Erfahrungen, doch sie wurde unterbrochen von den beiden Kollegen, die an die Orte anknüpfen, von denen Zheng berichtet, man kennt die Verbannungsregionen an der kasachischen Grenze, wohin schon die in Ungnade Gefallenen während der Kulturrevolution verschickt wurden. Die Welt sei jedoch komplizierter geworden, vermeldet Ai Weiwei, der sich in der Dichterrunde offenbar nicht ganz aufgehoben fühlt. Wenn man im Westen über die einen Probleme spreche, über die alternde Gesellschaft oder wirtschaftliche Schwierigkeiten, erkenne man nicht, wie das alles mit China zusammenhänge. In einem Gedankenexperiment schlägt er vor, die deutschen Supermarktregale von chinesischen Waren leerzuräumen: „Schauen Sie, was dann übrig bleibt.“
In seinem wegen der medialen Inszenierungen nicht unumstrittenen Dokumentarfilm „Human Flow“, in dem Ai Weiwei die Flüchtlingskrise in einem Panoptikum einzufangen versucht hat, fungiert die Lyrik aus den Gegenden, in denen sein Team recherchierte, als Transmissionsriemen für die Gefühle und subjektiven Eindrücke. Er habe den Film „wie ein Gedicht“ komponieren wollen.
Ein Fanal gegen die Verdrängung
Die Flüchtlingskrise ist auch Thema in einem „Gedicht vom Versinken (Venezianische Elegie 4)“ von Yang Lian: „rialto-brücke/eine schneeweiße aussichtsplattform/die toten lassen den blick schweifen/über einen fluss aus blut/im abendlicht zwischen den abendmenüs/geopferte kinder auf tellern.“ Gegenüber der gewohnten Hermetik seiner Lyrik wirkt das geradezu plakativ, ein Fanal gegen die Verdrängung, das Wegschauen, wie Yang erklärt. Was würde eigentlich passieren, wenn China geografisch näher an Europa läge und der Weg für die Wanderarbeiter zu bewältigen?
Eine besondere Art des west-östlichen Divans hatte Ais Vater, der Dichter und KP-Kulturfunktionär Ai Qing, schon 1979 ins Bild gesetzt, als er während eines Berlin-Besuchs die Berliner Mauer mit der Großen Berliner Mauer verglich. Von Yang vorgetragen, endet es mit der offenen Frage: „die gedanken von hundert millionen menschen/die freier sind als der wind? Ihren willen, der dicker ist als die erde?/ ihr begehren, das länger ist als die zeit?“