Leiko Ikemura im Haus am Waldsee: Aus den Nebeln der Erinnerung
Sanfte, zackige Berge, stille Seen und schlanke Bäume. Es sind meditative Panoramen, die die Japanerin Leiko Ikemura in ihren Gemälden entwirft. In der aktuellen Ausstellung im Haus am Waldsee reflektiert sie ihre kulturellen Wurzeln.
Es riecht nach Buttermilch. Ganz leicht, sicher ist die kleine olfaktorische Störung im Wintergarten bald verflogen. Alles andere wäre unpassend für die zarte, weiß gefasste Frauenfigur aus Bronze, die wie träumend auf den kalten Fliesen liegt, umgeben von milchig gemachten Fenstern. Es passt genauso wenig zum künstlerischen Kosmos von Leiko Ikemura, in dem sich Entäußerung und höchste Perfektion stets ausbalancieren. „Memento Mori“, die liegende Mädchenfrau im Kleid, das sich pflanzengleich öffnet und den Blick tief in die Skulptur ermöglicht, ist bloß ein Beispiel.
Das Innere nach außen kehren, ohne die Contenance zu verlieren: Wie die aus Japan stammende, später in Spanien, der Schweiz und nun lange in Berlin lebende Künstlerin diese Gegensätzlichkeiten vereint, ist im Haus am Waldsee zu erleben. Die Ausstellung „… und plötzlich dreht der Wind“ gibt Leiko Ikemura nach zahlreichen auswärtigen Solo-Schauen einen angemessen institutionellen Rahmen in jener Stadt, in der sie über zwanzig Jahre an der Universität der Künste gelehrt hat. Im Haus am Waldsee nutzt sie einerseits die Atmosphäre der umgewidmeten Villa mit ihren niedrigen Decken, farbigen Wänden und dem Blick durch die Fenster in den winterlichen Garten. Andererseits arbeitet die Künstlerin auch dagegen an.
Noch kurz vor der Eröffnung hat sie am Licht gedreht. Hat Scheinwerfer verstellen lassen, diverse Neonröhren zu- und wieder abgeschaltet. Und schließlich entschieden, dass es auch ohne das weiße, harte Licht geht. Ein Punkt für die Stimmung des Hauses. Und für ihre Bilder, deren Motive auf grober Jute sich im Dämmer am ehesten entfalten. Dafür sprengen Ikemuras Bildformate jedes häusliche Maß. Gemälde wie „Before Thunder“ von 2014 oder „Tokaido“ reichen fast bis unter die Decke.
Der unschuldige Blick ist weg
Distanz ist keine Option. Die Größe der Leinwände zwingt den Betrachter geradezu in die Motive. In die wiederkehrende Landschaft mit ihren mal sanften, mal zackigen Bergen im Hintergrund und den tiefen, stillen Seen weiter vorn. Weibliche Körper, Köpfe und schlanke Bäume säumen die idealtypischen Ansichten, die sich kaum als real lesen lassen. Viel mehr wirken sie konstruiert wie jene historischen Sujets in der asiatischen Kunst, denen Landschaft als Metapher dient. Leiko Ikemura hat stets vermieden, sich explizit auf die kulturellen Wurzeln zu beziehen. Japan, das war Kindheit. Inzwischen sind die Rückbezüge unübersehbar. Sie werden in den meditativen Panoramen im Salon ebenso wie auf den kleinen Küstenstücken im Obergeschoss in Erinnerung gerufen.
Die Künstlerin kam Anfang der Fünfziger nahe der japanischen Hafenstadt Nagoya auf die Welt. Prägend war für sie der Blick auf den Pazifik, dessen graue, klare Schönheit Ikemura in der Serie „Asuka“ um Kriegsschiffe und den Lichtschweif von Raketen am Horizont ergänzt. Der scheinbaren Zeitlosigkeit ist damit ein Datum an die Seite gestellt: die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den USA und Japan im Zweiten Weltkrieg. Der vieldeutige Begriff „Asuka“ verweist unter anderem auf eine Epoche, in der die japanische Kultur ihre Blüte erlebte und von der das Land bis zum Abwurf der beiden Atombomben zehrte. Seitdem gibt es den unschuldigen Blick nicht mehr: Wann immer er über das Wasser streift, formieren sich aus dem Nebel der Erinnerung Flotten und Geschwader als Vorboten eines alles beherrschenden Traumas.
Solche Ereignisse bilden Marken. Fukushima ist die nächste Zäsur, die Fragen nach individuellem Handeln und Verantwortung stellt. Leiko Ikemura antwortet als Künstlerin, ihre Motive begreift sie als transitorisch – ähnlich durchlässig wie die ungrundierten Leinwände oder ihre jüngst auf Japanpapier entstandenen Porträts wehrhafter Amazonen von 2015, die in einem Raum von der Decke hängen. Sie sind Ergebnis eines Aufenthalts in Barcelona. Im Zimmer gegenüber befinden sich Masken und Gesichter einer Reise nach Mexiko, von denen nicht klar ist, ob sie bloß schlafen oder längst tot und Geschöpfe einer anderen Wirklichkeit sind.
Der Kreislauf von Werden und Vergehen dominiert ihre Sujets
Dieses Diffundieren spiegelt sich auch im Werk der Künstlerin, die souverän die Genres wechselt. Neben die Bilder schmuggeln sich poetische, an der Tradition des japanischen Haiku orientierte Sätze: „Frag nicht mein Alter, ich bin tausendjährig.“ Im Entrée zum Obergeschoss hängen Fotografien vergehender Blüten. Leiko Ikemura hat die sterbenden Schönheiten kurz vor Eröffnung ihrer Ausstellung noch einmal abgehängt. Das Weiß an der Wand dahinter war zu blass, Blumen wie Vasen wirkten verloren. Vor dem weichen, vom Assistenten des Hauses in Windeseile aufgetragenen Grau entfalten sie nun alle Kraft. Obwohl sie verblühen und damit den Kreislauf von Werden und Vergehen schließen, der alle Sujets hier dominiert. Gleichzeitig baumeln sie ungerahmt und damit schutzlos an winzigen Klammern. Wer hier aber an Improvisation glaubt, der irrt gewaltig, auch das Detail ist austariert.
Nonchalant schafft Ikemura den Ausgleich zwischen dem kleinen Thema und seinen großen, repräsentativen Abzügen; zwischen dem Anspruch auf Sichtbarkeit und den ersten irreversiblen Zerstörungen, die das Licht unweigerlich anrichtet.
Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 17. April; Di bis So 11 – 18 Uhr. Am 7. 4. Künstlergespräch, 19.30 Uhr.
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