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Im Berliner Ensemble werden die Stühle wieder eingebaut.
© Moritz Haase

Die Kultur in der Coronapandemie: Aufbruch mit Maske

Seit dem Herbst sind Bühnen und Konzertsäle in Deutschland endlich wieder geöffnet – doch die Situation bleibt fragil. Welche Strategien haben die Häuser entwickelt, und wie kann es im Winter weitergehen?

Wie schnell Maßstäbe doch in einer Pandemie verrutschen können: „Die Bayerische Staatsoper schließt bis Ende April!“, rief ein Kollege aus der Redaktion im März. Unglaublich lange erschien das damals. Heute kann man darüber nur lächeln. Denn kurze Zeit später machten alle Bühnen in Deutschland dicht, und das nicht nur bis Ende April. Die bleierne Zeit des Streamings begann und dann, mit den steigenden Temperaturen ab Mai, eine trügerische Unbeschwertheit. Die Menschen entdeckten das Draußensein noch einmal neu – größtenteils ohne Theater, denn die meisten Häuser gingen nahtlos in die Sommerpause über. Jetzt ist Herbst, die Bühnen haben wieder geöffnet, und doch nichts ist mehr so wie vorher, die Situation immer noch fragil und dynamisch. Neustart, ja – doch wohin er in den nächsten Monaten führt, ist angesichts der epidemiologischen Entwicklung offen.

Strikte Hygienekonzepte

„Wie sehr wir als Gesellschaft irritierbar sind, wie die Grundlagen unseres scheinbaren Wohlbefindens von heute auf morgen ausgehebelt werden können, das ist schon eine existentielle Erfahrung“, meint Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters Berlin, der als Präsident des Deutschen Bühnenvereins für die meisten Theater in Deutschland spricht. Wie alle, versucht auch sein Haus mit einem strikten Hygienekonzept einen vergleichsweise normalen Betrieb aufrechtzuerhalten: Getrennte Eingänge für verschiedene Besuchergruppen, Verzicht auf Garderobe und Ausschank, große Abstände im Publikum oder alternativ das Tragen einer Maske während der gesamten Vorstellung, möglichst keine Pause, mehrmals stündlich Frischluftzufuhr, kurze Programme. Im November stehen am Deutschen Theater schon wieder 56 Vorstellungen auf dem Spielplan, immerhin drei Viertel des Angebots vom Vergleichszeitraum des Vorjahres. Für einige Stücke, bei denen große Nähe unabdingbar ist, werden die Akteure regelmäßig getestet, andere Produktionen wurden behutsam uminszeniert, die Schauspielerinnen und Schauspieler stehen jetzt weiter auseinander. „So stark fällt das gar nicht auf, man vergisst es schnell. Da ist mehr möglich, als man denkt“, sagt Khuon.

Uminszenieren, das kennt man auch am benachbarten Berliner Ensemble (BE). Alexander Eisenach hat für die Wiederaufnahme seiner Thomas Mann-Adaption „Felix Krull“ (3.–5. Dezember) eine eigene „Corona-Edition“ erarbeitet, angekündigt ist eine „Verlängerung von Manns Künstlertravestie und satirischer Befragung der künstlerischen Praxis in die pandemische Gegenwart.“ Im Frühjahr hatte das BE Schlagzeilen gemacht mit einer spektakulären Entfernung der meisten seiner Sitze. Inzwischen können 50 Prozent, also 350 Plätze im Großen Haus, wieder besetzt werden.

Wer da ist, applaudiert doppelt so laut

Wie sehr, allen Bemühungen zum Trotz, das Virus das Kulturleben befallen hat, ließ sich diesen Herbst in Berlins größtem Konzertsaal, der Philharmonie, studieren: Bewusst schütter besetzte Ränge, enorme Abstände zwischen den Besuchern, jede zweite Reihe musste frei bleiben. Stimmung, Dichte, Energie – für das künstlerische Erlebnis mindestens ebenso wichtig wie das, was auf dem Podium passiert – konnte so nicht entstehen, auch wenn sich das Publikum nach Kräften bemühte, doppelt so laut zu applaudieren wie sonst. Ab 1. November soll in der Philharmonie das Schachbrettmuster eingeführt werden, dessen Bedingung kontinuierliches Tragen einer Mund- Nase-Bedeckung ist.
Der Pierre Boulez Saal praktiziert das schon seit einiger Zeit so, doch hier geht man noch einen Schritt weiter: Gewöhnliche, womöglich selbst gefertigte Stoffmasken reichen nicht aus, es muss eine FFP2-Maske sein, wer keine besitzt, bekommt sie ausgehändigt. Auch im Konzerthaus am Gendarmenmarkt trägt man die Maske jetzt die ganze Zeit, dafür muss der Abstand nur noch ein Meter betragen. Anders als manch Orchester hat man sich hier dazu entschlossen, die Abonnements in der laufenden Saison nicht aufzulösen – „um unserem großen, über Jahrzehnte gewachsenem Stammpublikum die Sicherheit des Gewohnten nicht völlig zu nehmen.“ Für die Weihnachtszeit sind Konzerte in einem besonderen „Setting“ geplant, Details dazu werden im November bekannt gegeben.

Sehnsucht nach Fülle: Das Berliner Konzerthaus, eine Aufnahme von 2006
Sehnsucht nach Fülle: Das Berliner Konzerthaus, eine Aufnahme von 2006
© Imago/Kai Bienert

An der Deutschen Oper Berlin, die ihre „Walküre“-Premiere (wieder am 13. und 15. November) ähnlich heroisch durchzog wie die Salzburger Festspiele im Sommer ihre „Elektra“ – wird derzeit vor allem konzertant gespielt. Ab November soll es wieder szenische Vorstellungen geben, teils mit verkleinertem Orchester. Das Staatstheater Cottbus verweist auf seine hochmoderne Belüftungsanlage und Hygieneregeln und hofft durch ergänzende Teststrategien mehr Freiraum beim Proben und Spielen auf der Bühne zu schaffen. „Kreativ gekürzte Fassungen“ kündigt die Oper Leipzig an, aktuell können hier von 1247 Plätzen 360 besetzt werden. Anders als an den Berliner Häusern darf in Leipzig die Maske am Sitzplatz abgenommen werden. Da das Gewandhausorchester im Graben die Abstandsregeln nicht einhalten kann, sitzen 60 Musikerinnen und Musiker direkt auf der Bühne – was Pressesprecherin Gudula Kienemund sogleich als Vorteil anpreist: „Große Klangerlebnisse sind garantiert!“. Die Semperoper Dresden erweitert ihre Kapazität auf 500 (von 1300) Sitzplätzen und hat ein „Semper Essenz“ genanntes Programm aus reduzierten, konzertant oder halbszenisch aufgeführten Werken (zum Beispiel „Don Giovanni“) aufgelegt. Am 1. November steht hier die erste vollständige, ungekürzte Opernpremiere seit dem Lockdown an: „Die Zauberflöte“ in der Regie von Joseph E. Köpplinger, Intendant des Münchner Staatstheaters am Gärtnerplatz.

Was ist mit der Freien Szene?

Staatstheater, der Name sagt es schon: Alle erwähnten Institutionen sind in der einzigartigen Kulturnation Deutschland staatlich gefördert und in der Coronakrise relativ priviliegiert. Was aber ist mit jenen, denen so ein Netz fehlt, die individuell oder als Gruppe agieren und mit ihrer Arbeit das kreative Image Berlins wesentlich mitformen – den freien Künstlerinnen und Künstlern? „Die Situation ist äußerst prekär“, sagt Daniel Brunet, Mitglied des Sprecherkreises der Koalition der Freien Szene und Künstlerischer Leiter des English Theatre in Kreuzberg, das eine jährliche Basisförderung von 150000 Euro erhält. Die Soforthilfe des Landes im März habe für viele wunderbar funktioniert, erzählt er, aber als dann der Bund übernahm, sei das Programm nicht mehr auf die spezifische Situation freier Künstler zugeschnitten gewesen. So wurden Betriebsausgaben übernommen, die Selbständige selten haben, nicht aber Lebenshaltungskosten wie Krankenversicherung oder Miete. Auf dem am 31. Juli veranstalteten Solidaritätsfestival „Niemand kommt – alle sind dabei“ konnten immerhin 60 000 Euro an Spenden gesammelt (darunter von Peaches, Axel Prahl, Gayle Tufts, Sasha Waltz oder She She Pop) und Bewerber und Bewerberinnen mit jeweils 1000 Euro unterstützt werden.

"Schnellschüsse sind der falsche Weg"

Die Infektionszahlen steigen ungebremst, ein neuer Lockdown droht. Wie soll es in den kommenden Monaten weitergehen? „Dass jetzt alle wieder zu Hause bleiben, scheint unpraktikabel“, meint Daniel Brunet. Nötig seien vielmehr Strategien, wie man die Gesundheit schützen und trotzdem Kunst machen kann. Auch Ulrich Khuon hält Schnellschüsse wie das Beherbergungsverbot für den falschen Weg: „Studien haben gezeigt, dass sich die meisten Menschen auf privaten Feiern anstecken, wo man länger zusammen ist und mit der Zeit den Abstand vergisst.“ Ja, natürlich mache es weniger Freude, vor halbleerem Haus zu spielen. Aber, so Khuon, „wir dürfen uns diesem Gefühl nicht hingeben, wir haben kein Recht darauf, verzweifelt zu sein.“ Er selbst gehe jeden Tag mit der Vorstellung ans Werk, dass sein Haus auf jeden Fall offen bleibe, sonst könne er gar nicht die Energie dazu aufbringen. Dann zitiert er Heiner Müller: „Entscheidend ist nicht, dass wir live spielen, sondern dass wir sterblich sind.“ Auch ohne Corona weiß man nie, ob man am nächsten Tag noch auftreten kann.

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