Frauen in Belarus: Aufbruch aus der Unsichtbarkeit
In der belarussischen Demokratiebewegung spielen Frauen eine zentrale Rolle, schreibt die Philosophin und Zeitzeugin Olga Shparaga in ihrem Buch.
Die Frauen, die sich auf dem Komarowski-Markt in Minsk versammelten, waren weiß gekleidet. Sie hatten Blumen dabei und hielten einander an den Händen. Sie waren gekommen, obwohl sie Festnahmen und Gewalt fürchten mussten. Für kurze Zeit hatten sie die Angst überwunden – jene Angst, ohne die eine Diktatur nicht bestehen kann.
Sie protestierten gegen die gefälschte Wahl in Belarus und vor allem gegen die massive Gewalt, mit der Sicherheitskräfte in den Tagen nach der Wahl gegen Demonstranten vorgegangen waren. Die Autorin, Philosophin und Zeitzeugin Olga Shparaga sieht in dieser Aktion am 12. August 2020 einen Wendepunkt, den Beginn einer „Revolution mit weiblichem Gesicht“. Denn in den kommenden Tagen gingen Frauen auch in anderen Städten auf die Straße. Bald gab es wöchentlich einen Marsch der Frauen.
[Olga Shparaga: Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus. Aus dem Russischen von Volker Weichsel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 234 Seiten, 13 €.]
Es seien die Frauen gewesen, die die belarussische Gesellschaft aus der Erstarrung geführt hätten, betont Olga Shparaga in ihrem Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“. Mit diesem Titel spielt die Autorin auf eines der bekanntesten Werke der belarussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch an. In dem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ erzählt Alexijewitsch die Geschichten von Frauen im Zweiten Weltkrieg und schreibt damit gegen ein männlich dominiertes Geschichtsbild an.
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„Siebzig Jahre nach Kriegsende begehrten nun die belarussischen Frauen gegen ihre Unsichtbarkeit auf“, betont Olga Shparaga. Die Frauen wurden in der neuen Demokratiebewegung zu entscheidenden Akteurinnen. Sie hätten Formen der Solidarität und des Protests entwickelt, die zu Leitbildern für die ganze Gesellschaft geworden sind, so die Autorin.
Auch an der Spitze der Demokratiebewegung standen Frauen: Swetlana Tichanowskaja hatte sich zur Kandidatur für das Präsidentenamt entschlossen, nachdem ihr Mann, der für das Amt angetreten war, verhaftet wurde. Unterstützt wurde sie von zwei Frauen, die aus konkurrierenden Wahlkampfteams kamen: Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo. Auch die männlichen Spitzenkandidaten dieser Teams konnten nicht antreten. Nach einem viertelstündigen Gespräch entschieden sich die drei Frauen zu einer Zusammenarbeit – ein bisher einmaliger Schritt, nicht nur in Belarus.
Zu ihren Wahlkampfauftritten kamen Zehntausende. Es gelang ihnen, die gespaltene Opposition zu einen, weil sie die Forderung nach fairen Wahlen, Freilassung der politischen Gefangenen und Neuwahlen in den Mittelpunkt stellten.
Staatschef Alexander Lukaschenko hatte die drei Frauen, die er in einer Rede als „unglückliche Gören“ bezeichnete, von Anfang an unterschätzt. Deswegen wurde Tichanowskaja zur Wahl zugelassen. „In patriarchalischen Vorstellungen gefangen, hatten er und sein Machtapparat sich nicht vorstellen können, dass eine Frau zur Bedrohung werden könnte“, schreibt Shparaga. Am Ende konnte er seine Macht nur mit massiven Wahlfälschungen sichern, so groß war die Unterstützung für Tichanowskaja.
Einige Feministinnen sahen das Frauen-Team kritisch
Unter Feministinnen wurde das Team der drei Frauen allerdings auch kritisch gesehen. Weil diese nach der Freilassung der Männer wieder in die zweite Reihe zurücktreten wollten, zementierten sie nur die patriarchalische Ordnung, so der Vorwurf. Shparaga, selbst Feministin, teilt diese Kritik allerdings nicht. Sie sieht die Gründung des weiblichen Teams im Zusammenhang mit einem grundsätzlichen „Empowerment“ der Frauen in Belarus.
Anlass für die feministische Kritik waren in erster Linie Äußerungen von Tichanowskaja, die deutlich machten, dass sie sich selbst nur als Übergangskandidatin bis zur Freilassung ihres Mannes sah. Sie wolle sich später wieder um ihre Kinder und ihren Mann kümmern und „Frikadellen braten“, sagte sie im Wahlkampf. Vielleicht konnte Tichanowskaja aber auch deshalb für viele Frauen in Belarus zum Vorbild werden, weil sie gerade keinen radikalen Bruch mit bestehenden Frauenbildern und Rollenverständnissen verkörperte. Es sei zugleich die Stärke und die Schwäche der Politikerin Tichanowskaja, dass ihre Volksnähe mit patriarchalischen Vorstellungen einhergehe, schreibt Shparaga.
Zudem machte Tichanowskaja selbst einen tiefgreifenden Wandel durch. In kürzester Zeit musste sie Auftritte vor einem riesigen Publikum bewältigen lernen und Medien aus der ganzen Welt Interviews geben. Heute tritt sie in Washington, Berlin und Paris als Repräsentantin ihres Landes auf und wirkt dabei so souverän, als habe sie nie etwas anderes gemacht. Vor den Augen der belarussischen Gesellschaft und später der Weltöffentlichkeit habe sich „die Geburt einer politischen Führungspersönlichkeit“ vollzogen, urteilt Olga Shparaga.
Tichanowskajas Beispiel bestärkte andere Frauen
Tichanowskajas Beispiel habe anderen Frauen, die diese Verwandlung beobachteten, Kraft und Sicherheit gegeben. Die gesamte Gesellschaft habe sich in ihrem Beispiel wiedererkennen können. „Ebenso wie Tichanowskaja überwand die Gesellschaft sich selbst und wurde zum politischen Subjekt.“ Viele Menschen in Belarus beschreiben diese Erfahrung als ein plötzliches Aufwachen nach einem langen Schlaf.
Eine der Frauen, die auf die Straße gingen und sich für ein anderes, freies Belarus einsetzten, ist die Autorin Olga Shparaga selbst. Doch ihr Buch ist nicht so sehr Erfahrungsbericht wie eine scharfsinnige Analyse der Demokratiebewegung und insbesondere der Rolle der Frauen. Diese Analyse wird durch ihre persönliche Perspektive bereichert, wenn sie beispielsweise berichtet, wie knapp sie und ihr Mann einmal prügelnden Sicherheitskräften entgingen und was diese Erfahrung in ihr auslöste: „Zugleich verlieh mir dieser Schrecken eine verzweifelte Entschlossenheit, den Widerstand gegen das, was um uns herum geschah, um keinen Preis aufzugeben.“
Als der Winter kam, hörten die großen Demonstrationen auf. Bis heute ist es der Protestbewegung nicht gelungen, ihre Forderungen zu verwirklichen. Das Regime lehnte jeden Dialog ab und setzte auf brutale Repression. Lukaschenko behaupte, er habe gesiegt, schreibt Shparaga. Aber das stimmt aus Sicht der Autorin nicht. „Die Revolution ist nicht vorbei. Sie ist in eine neue Phase eingetreten.“ Durch die Proteste und die Aufbruchstimmung hat sich die Gesellschaft in Belarus in einer Weise verändert, die vielen unumkehrbar scheint.
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